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Belle
de Jour – Schöne des Tages
Von
Lust und Frigidität
Ein
Fixpunkt ist schwer auszumachen. An was soll man sich klammern? Wo ist Anfang,
wo Ende, wo Traum, Realität und Phantasie? Luis Buñuel (1900-1983)
war ein Meister der vom Surrealismus (v.a. Dali) beeinflussten Übertragung
dessen, was wir Realität nennen, in ein Verwirrspiel zwischen diesen Ebenen
des Traums, der Phantasie und der realen Abläufe.
Eine
Kutsche fährt durch eine herbstliche Landschaft. Ein Paar lässt sich
fahren. Die Kutsche hält irgendwo, die Kutscher zerren die Frau in den
Wald und peitschen sie auf Geheiß des Mannes. Dann vergewaltigen sie die
Frau. Traum?
Es
handelt sich um Séverine Serizy (Catherine Deneuve) und ihren Mann, den
Arzt Pierre (Jean Sorel). Phantasie, Realität, Traum korrespondieren –
nein, nicht mit einem Doppelleben, sondern mit einer dreifachen Schichtung der
Existenz der jungen, gut aussehenden, in bürgerlichen Verhältnissen
lebenden Frau. Wunsch, Unzufriedenheit und Erinnerung sind ein weiteres magisches
Dreieck im Leben Séverines – oder nur eine andere Formulierung ihrer
Existenz.
Der
Strang der Erzählung von „Belle de jour“ scheint einfach. Die junge Frau
führt eine Ehe, liebt ihren Mann wie einen Freund. In ihren Phantasien
jedoch gibt sie sich anderen Männern hin, devot und mit einer ordentlichen
Portion Masochismus. Als sie von ihrer Freundin Renee (Macha Méril) hört,
eine Bekannte verdinge sich stundenweise als Prostituierte, und nachdem ihr
der abgeklärte Lebemann Henri Husson (Michel Piccoli), ein Bekannter ihres
Mannes (den sie nicht mag), erzählt, er kenne solche Etablissements, und
ihr die Adresse von Madame Anais (Geneviève Page) gibt, wagt sich Séverine
in deren Haus. Im teuren Kostüm, adrett und unschuldig im Äußeren
ihrer bürgerlichen Fassade, schwankt sie zwischen Angst und Neugier, schlechtem
Gewissen gegenüber Pierre und dem Drang nach Verwirklichung ihrer geheimsten
Träume. Sie bleibt, zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags ist sie
nun ständig die Belle de jour. Sie legt ihren Namen ab, wie die anderen
im Haus der Madame Anais, die schwarzhaarige Charlotte (Françoise Fabian)
und die rothaarige Mathilde (Maria Latour) und nicht zuletzt Madame Anais selbst
– alles falsche Namen.
Kühl
und unnahbar begegnet sie Pierre, ebenso jedoch ihren Kunden. Séverine
erklärt sich nur aus Séverine. Sie hat keine Leidenschaft, sie ist
ihre eigene Leidenschaft. Sie trifft auf Monsieur Adolphe (Francis Blanche),
den reichen Bonbonfabrikanten, einen dicklichen, kleinen Mann, der Frauen wie
seine Ware abschätzt; auf einen asiatischen Kunden (Iska Khan), der ihr
eine Schachtel zeigt, die für den Zuschauer ein Geheimnis birgt, etwas,
was wir nicht zu Gesicht bekommen, für den Kunden jedoch offensichtlich
geheime Wünsche symbolisiert; auf Professor Henri (Marcel Charvey), der
sich im Etablissement als Diener verkleidet und seine masochistischen Wünsche
mit der Peitsche erfüllt sehen will.
Belle
de jour findet Gefallen an ihrem dreigeteilten Leben, das doch nur eines ist:
Gegenüber Pierre erklärt sie, sie komme ihm endlich von Tag zu Tag
näher, sie habe keine Angst mehr vor ihm und beider Beziehung. Bei Madame
Anais erfüllt sie sich ihre Träume. In ihrer Phantasie lässt
sie sich dafür bestrafen (wie in der anfangs des Films gezeigten Kutschfahrt):
Pierre und Husson bewerfen sie, die an einen Pfahl auf einer Weide mit Stieren
gefesselt ist, mit Schmutz und beschimpfen sie als Hure. In einem Restaurant
lässt sie sich von einem Grafen (Georges Marchal) dafür engagieren,
schwarz gekleidet die Leiche seiner verstorbenen Geliebten oder Frau in einem
offenen Sarg zu spielen, um sich nach Abschluss des nekrophilen Spiels vom Diener
des Grafen wie eine Hure hinauswerfen zu lassen.
Als
Séverine den in Schwarz gekleideten Gangster Marcel (Pierre Clémenti)
und seinen Kompagnon Hyppolite (Francisco Rabal) bei Madame Anais kennenlernt,
sieht sie sich dessen Nachstellungen ausgesetzt. Séverine kündigt
bei Madame Anais. Marcel will Belle de jour für sich, will ihre wahre Identität
enthüllen, taucht bei ihr zu Hause auf und droht, Pierre alles über
sie zu erzählen. Dann schießt Marcel auf Pierre, der fortan sein
Leben gelähmt im Rollstuhl verbringen muss. Marcel wird auf der Flucht
von einem Polizisten erschossen. Und Henri erzählt Pierre von Séverines
Tätigkeit bei Madame Anais.
Als
Séverine nach Henris Besuch zu Pierre ins Zimmer geht, nimmt der seine
dunkle Brille ab, steht auf, geht zu Séverine, die, als sie die Geräusche
trabender Pferde hört, auf den Balkon geht. Eine leere Kutsche fährt
vorbei. Phantasie?
Anfang
und Ende des Films schließen sich wie ein Zirkel. Aber wo ist Anfang und
Ende, wo Phantasie, Realität und Traum? Buñuel lässt diese
Frage offen, so, wie er die Frage, was sich in dem Kästchen befinde, das
der asiatische Kunde Belle de jour zeigte, mit den Worten beantwortete: „Was
sie wollen.“
Man
könnte Séverines Ausflüge zu Madame Anais durchaus auch als
Phantasie interpretieren. Für Buñuel scheint dies jedoch nicht das
Entscheidende. Séverines Existenz in einer durch und durch großbürgerlichen
Welt ist vor allem von der Schizophrenie dieser großbürgerlichen
Welt selbst bestimmt. Das Auseinanderklaffen von Wunsch und Existenz, von Phantasie
und Realität zwingt Séverine zum einen, ihr als Schuld empfundenes
zweites Leben bei Madame Anais im Traum zu sühnen. In der bürgerlichen
Existenz ist sie nicht bei sich selbst, und in der gelebten, aber eben auf die
eigene Prostitution bezogenen Wunscherfüllung ist sie als Belle de jour
nicht in ihrer offiziellen Existenz.
Marcel,
der Gangster – gezeichnet durch eine riesige Narbe am Rücken und ein metallverstärktes
Gebiss, dem schon einige Zähne fehlen (Zeugen seiner zwar illegalen, aber
dennoch offiziellen Existenz) –, will die Fassade der Belle de jour herunterreißen
– und kommt dabei um. Pierre, der nichts ahnende Ehemann, wird zum Opfer – und
zwar zum für Séverine geradezu optimierten Opfer. Denn sein Gefesseltsein
an den Rollstuhl verschafft Séverine einen Ehemann, der ihrer schizophrenen
Lebensweise gerecht geworden ist. Sie muss nicht mehr mit ihm schlafen. Sie
könnte sich wiederum als Belle de jour betätigen. Der Tod Marcels
verschafft ihr zudem die Befreiung von einem Mann, der die von ihr gesetzten
Grenzen überschreiten wollte. Der „Verrat“ Henri Hussons, der Pierre offenbart,
was Séverine vor ihm verbergen wollte, entpuppt sich sozusagen als notwendige
Korrektur, um die Verhältnisse ins Lot zu bringen. Die Kutsche, die Séverine
in der Schlusssequenz vom Fenster aus sieht, ist leer. Eine Bestrafung durch
Pierre ist nicht mehr notwendig. Sie ist die Siegerin in beider Beziehung; sie
kann sich – wenn sie es für nötig empfindet – die Strafe selbst aussuchen.
Ihr offizielles Verhältnis mit Pierre, ihre offizielle Existenz, wird damit
nicht mehr belastet. Ihr Gewissen wird frei, weil sie sich ihre phantasierte
Strafe selbst erwählen kann. Es ist wie in der Kirche: die Beichte nimmt
einem alle Schuld.
Doch
möglicherweise benötigt sie dies auch gar nicht mehr und Frigidität
wird im Zentrum ihres künftigen Lebens stehen.
Die
Kontinuität sowohl des schizophrenen Lebens Séverines als auch im
übertragenen Sinn bürgerlichen Lebens überhaupt jedenfalls ist
gewährleistet.
Trotz
allem bleibt eine Unbestimmtheit in „Belle de jour“, ein vages, aber dennoch
unheimliches Gefühl der Unsicherheit, der Haltlosigkeit, des Flüchtigen,
denkt man etwa an einen anfangs des Films gezeigten Traum, eine Erinnerung möglicherweise,
in der Séverine als kleines Mädchen von einem erwachsenen Mann (möglicherweise
dem Vater) missbraucht wird. Diese phantasierte Erinnerung wird nur als Andeutung
gezeigt, ist aber dennoch deutlich in ihrer Aussage.
Catherine
Deneuve war diese Rolle einer gut situierten, kühlen und sicherlich auch
skrupellosen Frau auf den Leib geschnitten. Das Hin und Her zwischen tief sitzender,
aber eingesperrter Angst und kalt verfolgtem Begehren in einer räumlich
abgespaltenen zweiten Welt, die nur Spiegelbild der ersten ist, bedarf eines
Einfühlungsvermögens, das die Deneuve für solche Rollen prädestinierte.
Jean Sorel als ihr Ehemann hatte es da wesentlich leichter mit seiner Rolle,
und dennoch überzeugen er und vor allem Michel Piccoli in ihrem Spiel durchaus.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Belle
de jour – Schöne des Tages
(Belle
de jour)
Frankreich,
Italien 1967, 101 Minuten
Regie:
Luis Buñuel
Drehbuch:
Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière, nach dem Roman von Joseph Kessel
Director
of Photography: Sacha Vierny
Montage:
Louisette Hautcœur
Produktionsdesign:
Robert Clavel
Darsteller:
Catherine Deneuve (Séverine Serizy / Belle de Jour), Jean Sorel (Pierre
Serizy), Michel Piccoli (Henri Husson), Geneviève Page (Madame Anais),
Pierre Clémenti (Marcel), Françoise Fabian (Charlotte), Macha
Méril (Renee), Maria Latour (Mathilde), Iska Khan (asiatischer Kunde),
Marcel Charvey (Prof. Henri), Francisco Rabal (Hyppolite), Georges Marchal (Graf),
Francis Blanche (Monsieur Adolphe)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0061395
©
Ulrich Behrens 2004
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