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Berlin
- Die Sinfonie der Großstadt
Ein herausragendes Kinoereignis der zwanziger Jahre
- und bis heute ein umstrittener Film. Ruttmanns Berlin-„Sinfonie“, das erste
konsequent dokumentarische Werk von nahezu abendfüllender Länge, wurde
schon von der zeitgenössischen Kritik teils mit Begeisterung aufgenommen,
teils leidenschaftlich diskutiert und verfehlte auch keineswegs seine Wirkung
beim breiten Publikum, das sich gerade vom Authentizitätsanspruch, vom
Non-fiction-Charakter der Bilder faszinieren ließ. „Es gibt keine Schauspieler,
und doch handeln Hunderttausende. Es gibt keine Spielhandlung, und es erschließen
sich doch ungezählte Dramen des Lebens. Es gibt keine Kulissen und keine
Ausstattung, und man schaut doch (...) die unzähligen Gesichter der Millionenstadt.
Paläste, Häuserschluchten, rasende Eisenbahnen, donnernde Maschinen,
das Flammenmeer der Großstadtnächte - Schulkinder, Arbeitermassen,
brausender Verkehr, Naturseligkeiten, Großstadtsumpf, das Luxushotel und
die Branntweindestille...Der mächtige Rhythmus der Arbeit, der rauschende
Hymnus des Vergnügens, der Verzweiflungsschrei des Elends und das Donnern
der steinernen Straßen - alles wurde vereinigt zur Sinfonie der Großstadt.“
Diese Verleihankündigung weckte Erwartungen, die der Film einzulösen,
wenn nicht gar zu übertreffen vermochte; überdies enthält sie,
in nuce, das ästhetische Programm des Films ebenso wie seine „ideologische“
Brisanz, die bis heute Gegenstand der Diskussionen ist.
Ruttmanns „Berlin“ ist gleichzeitig „sinfonisches“,
d.h. musikalisch geprägtes und durchrhythmisiertes Kino - und ein erster
Höhepunkt des dokumentarischen Sehens, realitätsbesessen und der Moderne
zugewandt. „Absolute“ Bildkunst und „film pur“, ein Werk aus dem Geist der Montage
und ästhetischer Radikalität - aber auch vom „Fluß des Lebens“
(Siegfried Kracauer) inspiriert und, wie so viele Filme der Weimarer Republik,
ein ambivalenter Hymnus auf die großstädtische Straße. Zugleich
ein Film, der spezifisch deutsche Entwicklungen vorwegnimmt und auf das Schicksal
der dokumentarischen Bilder in der nationalsozialistischen Diktatur verweist:
Das Interesse an den Oberflächenerscheinungen der Realität unterwirft
sich schon hier einer formalen Obsession, die wenig später ganz und gar
außerkünstlerischen, explizit politischen Interessen zu Gebote stehen
wird. Die „soziale Blindheit“, die einige Kritiker schon damals im Berlin-Film
diagnostiziert haben, ist ein Attribut jener „neuen Sachlichkeit“ in der zweiten
Hälfte der zwanziger Jahre, die von den Nationalsozialisten relativ mühelos
ihrem ästhetischen Politikentwurf eingeordnet werden kann.
„Berlin - Die Sinfonie der Großstadt“
folgt nach außen streng dem chronologischen Ablauf des urbanen Alltags
vom frühen Morgen bis in die Nacht: Vom Eintreffen eines Eisenbahnzuges
in der noch schlafenden Stadt über das allmählich erwachende Leben
im Häuserdschungel, den Strom der Arbeiter- und Angestelltenmassen in
die Fabriken und Büros, den Arbeitsrhythmus in der Industrie und in den
Werkstätten am Vormittag, den großen Müßiggang der Reichen
und die kleinen Vergnügungen des Volks, Straßenleben, Massendemonstrationen
und Kaffeehaustreiben, die Mittagspausen an den Arbeitsstellen, im Stehimbiß,
in den feinen Restaurants, in den Großküchen und im Zoo - bis zur
abermals ausbrechenden Hektik am späten Nachmittag und am Abend, wenn die
Millionenstadt dem Sport, dem Varieté, den Freuden der Restaurants und
der Nachtlokale huldigt.
Die „innere“, ästhetische
Struktur des Films jedoch ist keinen inhaltlichen Kriterien unterworfen, sondern
einer Bewegungsdynamik, die allein rhythmisch und musikalisch, nach den Gesichtspunkten
von Richtung und Gegenrichtung, Stillstand und Bewegung, diagonal-frontal-vertikal,
piano-forte-fortissimo funktioniert: also nach Prinzipien, die tatsächlich
eher der abstrakten Malerei oder dem Aufbau einer Sinfonie entstammen und den
Kritiker Alfred Kerr zu der Bemerkung veranlaßt haben, Ruttmanns Berlin-Film
sei „ein Rausch für die Pupille (...), aber kein Menschenfilm.“ Alles „wirkliche
Leben“ - die gesellschaftlichen Gegensätze, die Menschen als Akteure des
Alltags, als Opfer und Genießer; die sozialen Milieus, die Stimmungsvaleurs
und die wechselnde Atmosphäre einer „brodelnden“ Stadt: all das ist in
diesem Film präsent und gleichzeitig umgeschmolzen, eingeschmolzen in eine
hermetische Struktur, die allein einer raffinierten, letztlich mathematischen
Organisation unserer Wahrnehmung gehorcht. So ist dieser Berlin-Film zweifellos
ein früher Höhepunkt des Montage-Denkens in der Kinematographie; die
vom Bewegungs- und Kontrastprinzip diktierten Bildfolgen, die kontrapunktische
Organisation von extrem rasant montierten Einstellungen und Momenten der Entspannung,
die wechselnden Blickrichtungen und Bildanalogien lassen Ruttmanns Werk als eine
in sich perfekte ästhetische Maschine erscheinen - als ein Produkt der
abstrakten Kunst, das mit gegenständlichem Material arbeitet, sich diesem
gegenüber jedoch vollkommen gleichgültig verhält.
Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß
die große Mehrzahl der Bilder (zum Teil mit versteckter Kamera, da es
Ruttmann darum ging, das großstädtische Leben in flagranti zu belauschen)
aus einer statischen Position aufgenommen wurden. Der „Fluß des Lebens“,
als filmische Qualität, resultiert allein aus der Bewegung in den Bildern
selbst und vor allem aus der nachträglich vorgenommenen Montage - die Kamera
hingegen, das beobachtende Auge, bleibt starr. Der visuelle „Wirbel“, der vor
unseren Augen entsteht, entspringt der Vielzahl der Schnitte (1009 Einstellungen
in 61 Minuten) und der extremen Kürze zahlreicher Einzelbilder. Für
die quantifizierende Filmwissenschaft ist Ruttmanns Film daher ein überaus
geeignetes Objekt. Sie hat herausgefunden, daß die durchschnittliche Einstellungslänge
des Berlin-Films (3,7 Sekunden) im zeitgenössischen Kino nur von Eisensteins
„Panzerkreuzer Potemkin“ (2,8 Sekunden) unterboten wurde - Zeitmaße, die
heute, in der Epoche der Videoclips, keineswegs außergewöhnlich sind,
in den zwanziger Jahren jedoch den vom stummen narrativen Kino geprägten
Wahrnehmungsrhythmus einschneidend veränderten. Die von Ruttmann kreierte
Gattung der „Querschnittfilme“ (1929 folgte, bereits mit einer Musiktonspur
versehen, sein in allen Erdteilen gedrehter Film „Melodie der Welt“) brachte
eine neue, der Sachlogik des Industriezeitalters entsprechende Beschleunigung,
eine gleichsam maschinenhafte Dynamik in die Bilder.
Das experimentelle Interesse für den „abstrakten
Film“, das Ruttman seit Beginn der zwanziger Jahre mit anderen Vertretern der
europäischen Filmavantgarde (Fernand Leger, Man Ray, René Clair,
Henri Chomette) teilte, und sein Bemühen um eine Verbindung von Musik und
Malerei mit den Mitteln des Films bilden den biographisch-kunsthistorischen
Kontext, in dem sein Berlin-Film entstanden ist. Mit den Arbeiten Viking Eggelings
oder Oskar Fischingers verbindet ihn ein Absolutheitsdrang, der die Referenz
auf die eingefangene Wirklichkeit dem künstlerischen Konzept unterwirft
- im Gegensatz zu den gleichzeitigen Experimenten Dsiga Vertovs in der Sowjetunion,
im Gegensatz auch zu den Arbeiten Jean Vigos und anderer Filmavantgardisten
in Frankreich, die nie den Menschen und die sozialen Verhältnisse aus dem
Auge verloren. Ruttmanns rigoroses Verständnis von Komposition und rhythmisierter
Form hingegen mündet in ein statisch-ornamentales Kunstkonzept, das sich
in den dreißiger Jahren mühelos der „stählernen“ Lebensauffassung
der neuen Machthaber in Deutschland anpassen kann. Unter den Nationalsozialisten
setzt Ruttmann seine Strategie der Ästhetisierung fort, wendet sie nun
aber auf den Glanz der faschistischen Hochrüstung an. Seine Filme aus dieser
Zeit heißen „Metall des Himmels“ (1935), „Mannesmann“ (1937), „Deutsche
Waffenschmieden“ (1940) und „Deutsche Panzer“ (1940).
Klaus Kreimeier
Dieser Text ist in der deutschen
Fassung zuerst in der filmzentrale erschienen - ursprünglich in französischer
Übersetzung veröffentlicht vom Goethe-Institut Lille, 1996
Berlin
- Die Sinfonie der Großstadt
Deutschland
- 1927 - 69 (18 B/Sek.) min. – schwarzweiß - Verleih: Stiftung Deutsche
Kinemathek - Erstaufführung: 23.9.1927/14.11.1969 ZDF - Produktionsfirma:
Deutsche Vereins-Film AG/Fox Europa - Produktion: Karl Freund
Regie:
Walther Ruttmann
Buch:
Walther Ruttmann, Karl Freund
Kamera:
Reimar Kuntze, Robert Baberske, Lászlo Schäffer
Musik:
Edmund Meisel (Musik der Uraufführung)
Schnitt:
Walther Ruttmann
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