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Engel
in Amerika
Lebensentwürfe,
Todesträume
Mike
Nichols' TV-Adaption des Dramas „Angels in America"
Tony
Kushners zweiteiliges Drama „Angels in America" gehört zu den wichtigsten
Theaterarbeiten der letzten 50 Jahre und wurde unter anderem mit dem Pulitzer-Preis
ausgezeichnet. Vor zwei Jahren hat Mike Nichols das Stück für den
Fernsehsender H BO mit vielen Stars inszeniert - ein großer Kritikererfolg
und ein Comeback für den Regisseur, der die Linie inzwischen mit der Theaterverfilmung
HAUTNAH (epd Film 1/05) fortgesetzt hat. Im Mai zeigt die ARD Nichols' „Angels"-Adaption
als Miniserie
Dem
deutschen TV-Publikum macht man es nicht leicht mit dieser Serie, die man getrost
einen Meilenstein in der Geschichte der Fernseh-Kunst (doch, das gibt es!) nennen
kann. Die ARD strahlt die sechsstündige Miniserie in drei Teilen am späten
Abend, beinahe versteckt, aus. Dabei ist schon die Produktionsgeschichte so
beeindruckend wie die Liste der Beteiligten. Müssten nicht allein Meryl
Streep plus Al Pacino plus Mike Nichols als Regisseur eine Prime-Time-Ausstrahlung
sichern - wie übrigens in anderen europäischen Ländern geschehen?
Und beinahe alles, was die großen Namen versprechen, wird in der Serie
erfüllt, die überdies eine rekordverdächtige Anzahl von Preisen
anhäufen durfte.
Das
zweiteilige Theaterprojekt von Tony Kushner, der auch das Drehbuch schrieb,
ist in den Jahren zwischen 1985 und 1990 angesiedelt, zur Zeit der Reagan-Administration
und der Ausbreitung einer bis dahin unbekannten Krankheit: Aids. ANGELS IN AMERICA
spielt in den unterschiedlichen Lebenswelten homosexueller Männer in New
York, dargestellt in einem halben Dutzend exemplarischer Charaktere, aber mehr
noch spielt es zwischen Himmel und Erde (man weiß nicht, welches der „verlassenere"
Ort ist), zwischen Leben und Tod. Kushner schuf gleichsam ein lyrisches Gegenstück
zu härteren, reportagehaften Stücken und Filmen wie AND THE BAND PLAYED
ON; er nennt sein Stück im Untertitel „A Gay Fantasia on National Themes",
und in der Tat geht es ihm im Angesicht der Krankheit nicht nur um die Einsamkeit
des Menschen in der Familie und in der Gesellschaft, sondern auch um den gesellschaftlichen
Hintergrund, darum, wie Politik, Sexualität und Religion zusammenwirken.
Kushners „Angel"-Stücke bildeten das große schwule Amerika-Bildnis,
es ist ein Blick zurück am Leitfaden von Alices Erkenntnis im Wunderland:
„People come and go so strangely here!" Für einen klassischen Filmstoff
fehlt dem Stück allerdings die dramaturgische Struktur; es bewegt sich
auf einen Abbild-Charakter zu, der in seiner ausufernden Länge nicht Konflikte
zuspitzt und durchführt (obwohl es an Konflikten keinen Mangel gibt), sondern
im Gegenteil den Zustand seiner Protagonisten und ihrer Gesellschaft immer genauer
und näher beschreibt.
Amerika
- kein Schmelztiegel
Der
erste Teil, „Millennium Approaches", ist angefüllt mit Zeichen und
Empfindungen des kommenden Unheils; eine prä-apokalyptische Stimmung wird
aufgebaut, die auf den schrillen Chic der Siebziger folgte, und der gegenüber
die Menschen ratlos, verzweifelt und bösartig reagieren. Er beginnt mit
den Worten des Rabbis, dass im Schmelztiegel Amerika nichts wirklich verschmilzt.
Tatsächlich sehen wir in diesem Teil vor allem Bilder des Auseinanderbrechens,
und selbst Gespräche scheinen immer auf Trennungen, Distanzierungen, Abstoßung
hin zu lenken. Die rasche Ausbreitung von Aids in der Zeit des Reagan-Konservatismus
überfordert die Gesellschaft, Masken müssen fallen, Rollen erweisen
sich als fatal. Der zweite Teil, „Perestroika", führt gleichsam von
einem düsteren Gesellschaftsbild zu einer Beschreibung der Subjekte, die
diese Katastrophe immer zugleich als persönliche, religiöse und politische
erleben. Dieser zweite Teil schildert die Suche der nicht verschmolzenen Menschen
- und der nicht verschmolzenen religiösen Konzepte - nach Lösung und
Erlösung. Die große Krise erweist sich auch als Chance zur Veränderung.
Der
etwa 30-jährige Prior Walter (Justin Kirk) ist einer der ersten, die von
der „Seuche" erwischt werden. Als sich sein Zustand verschlimmert und er
ins Krankenhaus eingeliefert wird, wendet sich sein Lover Louis (Ben Shenkman)
von ihm ab, und die eigentümliche Mischung von Feigheit und Kälte,
mit der er das tut, ist wie eine Initialzündung für die emotionalen
Katastrophen, die noch folgen werden. Louis landet in den Armen des gerade geouteten
Staatsanwalts Joe Pitt (Patrick Wilson). Seine Frau, Harper (Mary-Louise Parker),
die ohnehin schon lange nicht mehr bei Trost ist, muss ob dieser Entdeckung
endgültig den Verstand verlieren, und seine Mutter Hannah (Meryl Streep),
die unerschütterliche, ruppige Mormonin aus Utah, die den Sohn auf den
rechten Pfad zurückbringen will, richtet nichts aus.
Walter
ist im Krankenhaus auf eine schon fast kosmische Weise allein gelassen, nur
Belize (Jeffrey Wright) ist ihm als helfender Freund geblieben. Da bekommt er
den ersten Besuch eines Engels (Emma Thompson), nicht gerade das gütige
und verständnisvolle Wesen, das man erwarten möchte. Er ist auserwählt,
Prophet einer schrecklichen Wahrheit zu sein: Gott hat die Welt verlassen und
die Menschheit verworfen. Unterdessen kommt Louis, der typische jüdische
liberale Intellektuelle, in heftige Konflikte mit dem mormonischen Fundamentalismus
und der reaganistischen Ignoranz seines neuen Liebhabers. Joe Pitt ist der abhängige
Protegé des machthungrigen Roy Cohn (Al Pacino). Dieser Roy Cohn ist
die einzige Figur im Stück, die es wirklich gegeben hat, und in ihr spiegeln
sich in der Tat die innere Zerrissenheit, die politisch-sexuelle Absurdität
der Zeit. Cohn, der „Kommunistenfresser" und unbarmherzige Verfolger all
dessen, was er anti-amerikanisch empfand, war maßgeblich daran beteiligt,
dass Ethel Rosenberg wegen Hochverrats hingerichtet wurde. Er war ein Schwuler,
der Schwule hasst. In einer Szene furchtbarer Komik erklärt er seinem Arzt
(James Cromwell), dass er zwar Sex mit Männern habe, aber deswegen kein
Schwuler sei, schließlich könne doch kein Schwuler den Präsidenten
der Vereinigten Staaten ans Telefon bekommen. Und so drängt Cohn den Arzt
dazu, ihm eine Krebs-Diagnose zu stellen und nicht die Krankheit festzustellen,
unter der er wirklich leidet, die „Schwulenseuche" Aids.
Passionsgeschichten
Weniger
eine lineare Handlung als ein Kreisen der Geschehnisse, Beziehungen und Träume
ineinander geht von hier aus; es sind Passionsgeschichten von Menschen, die
durch die Krankheit direkt oder indirekt gezwungen sind, das Leben, die Masken,
die Gewohnheiten zu verändern, und umgekehrt Geschichten aus einer Gesellschaft,
die vor ihren Lügen und vor ihrer inneren Gewalt zurückschrecken muss.
ANGELS IN AMERICA ist ein Erinnerungspuzzle und ein moralisch-religiöser
Essay.
Viele
Darsteller spielen mehrere Rollen, was natürlich genügend Gelegenheiten
zu schauspielerischen Glanzleistungen bietet: Imposant vor allem Meryl Streep
in den Rollen von Rabbi Isidor Chemelwitz, Hannah Porter Pitt, Engel Australia
und Ethel Rosenberg, Emma Thompson als Engel America, Schwester Emily und die
Homeless Woman, Justin Kirk als Prior Walter und „Mann im Park", Ben Shankman
als Louis Ironson und Engel Oceania oder Jeffrey Wright als Norman „Belize"
Arriaga, Mr. Lies und Engel Europa. Diese Mehrfachbesetzungen lösen nicht
nur nahe liegende Stereotypen auf, sondern bilden auch zusätzliche Lektüre-Vorschläge.
Was
Nichols und seinen Darstellern auf bemerkenswerte Art gelingt, ist Erzeugung
einer intensiven menschlichen Nähe, die eigentlich erst den Druck auf die
höchsteigene Form der Transzendenz ermöglicht und umgekehrt. Spiritualität
und Religion sind an das Subjekt gebunden und doch nicht willkürlich. Wir
blicken nicht nur auf Menschen in sehr konkreten Lebens- und Leidenszuständen,
wir sehen auch durch sie hindurch in ihre Träume, in den Himmel, der sich
nur über einer unerträglichen Welt wölben kannn, aber auch ganz
direkt, wie der Titel von Kushners Theaterstück versprach, auf den inneren
Zustand einer Nation. ANGELS IN AMERICA ist nun schon so etwas wie ein Rückblick
auf eine Zeit, die definitiv vergangen ist, obwohl und gerade weil es in der
Bush-Administration solche Verwandtschaften zu den nicht weniger finsteren Zeiten
des Reaganismus gibt - kein Zweifel, dass die Serie auch als direktes Statement
zur politischen Moral der Gegenwart gesehen werden kann. Und dieser Rückblick
ist gemischt aus Impulsen von Zärtlichkeit und Wut, Verachtung und Hoffnung.
Es ist ein Abschiedsblick auf zwei homosexuelle amerikanische Lebensentwürfe,
auf zwei Todesträume, der eine fiktional, der andere real: Walter, der
Leidende und der Erlöste, Roy Cohn, der Verdammte, der noch auf dem Totenbett
mit dem schwulen afroamerikanischen Pfleger streitet. So hat am Ende Walter
die Prophezeiung auf seine Art verstanden: „Diese Krankheit bedeutet das Ende
für viele von uns, aber lange nicht für alle ... Wir werden nicht
mehr im Verborgenen sterben. Die Welt dreht sich nur vorwärts. Und wir
werden wirkliche Bürger sein. Die Zeit ist gekommen."
Schau
heimwärts, Engel
Die
Form der Miniserie, die allein die Fülle des Theaterstücks bewältigen
kann, ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Stücks. Mike
Nichols und seine Protagonisten hatten alle erdenkliche Zeit - und mit einem
Budget von 60 Millionen Dollar alle Mittel -, die Charaktere und Beziehungen
zu entwickeln, sich für Nebenaspekte und Details zu interessieren. Gerade
diese Freiheit verleitet das Projekt aber gelegentlich zu einem gewissen Narzissmus,
das Drama tritt auf der Stelle und entfaltet dabei vielleicht ein wenig zu viel
Trauer und etwas zu wenig Zorn. Für all die vielen Fäden, die ANGELS
IN AMERICA aufnimmt, die politischen und moralischen Repressionen der Reagan-Jahre,
Aids, den Justizfall Rosenberg, den Beginn von gay
pride,
den religiösen Fundamentalismus im Allgemeinen und das Mormonentum im Besonderen,
Amerikas Rolle in der Welt, den neurotischen jüdischen Selbsthass, die
apokalyptischen Ängste, wird keine Geste des poetischen Widerstands angeboten.
Alle Lösungen können wiederum nur in den einzelnen Lebensentwürfen
und Entscheidungen liegen; es ist, als habe sich das Stück selbst an der
Verzagtheit und der Ratlosigkeit einiger seiner Protagonisten infiziert. Jeder
sucht einen Ausweg, manche finden ihn, manche nicht. Aber diese Dramaturgie
der offenen Enden und vagen Hoffnungen macht einen am Ende doch etwas ratlos.
All das Pathos, all die Sentimentalität, all die Opfer, selbst die Öffnung
des Himmels und die Kämpfe der Engel und mit den Engeln - sollten sie wirklich
zu nichts anderem führen? Und all diese wirklich grandiosen Einfälle
des Buches, der Regie, der Schauspieler; das Groteske, das Fantastische, das
Poetische, die tiefe Trauer und die umwerfende Komik - sollten sie wirklich
nur dazu dienen, dass sich am Ende alles davonstehlen kann, mit einer Wird-schon-werden-Rhetorik,
die offensichtlich auch Schleier über Gewalt und Korruption deckt? Einzelne
Sequenzen, einzelne Rollen, einzelne Übergänge sind so großartig,
dass man sie so schnell nicht vergisst. Das macht noch mehr schmerzhaft bewusst,
wie wenig vom Ganzen am Ende bleibt.
Georg
Seeßlen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: epd film
Engel
in Amerika
(Angels in
America)
USA
2003, ca. 352 min. (TV-Serie,
6 Folgen)
Regie:
Mike Nichols
Drehbuch:
Tony Kushner
Buch:
Tony Kushner
Produktion:
Avenue Pictures Productions
Besetzung:
Roy
Marcus Cohn - Al Pacino
Rabbi
Isidor Chemelwitz - Meryl Streep
Hannah
Porter Pitt - Meryl Streep
Ethel
Greenglass Rosenberg - Meryl Streep
Engel
Australien - Meryl Streep
Engel
Amerika - Emma Thompson
Schwester
Emily - Emma Thompson
Prior
Walter - Justin Kirk
Engel
Ozeanien - Ben Shenkman
Louis
Ironson - Ben Shenkman
Harper
Amaty Pitt - Mary-Louise Parker
Norman
Arriaga - Jeffrey Wright
Mr.
Lies - Jeffrey Wright
Engel
Europa - Jeffrey Wright
Joseph
Porter Pitt - Patrick Wilson
Henry
- James Cromwell
Michael
Gambon
Simon
Callow
Martin
Heller
Brian
Markinson
Die
Sendetermine der ARD im Mai 2005: Fr 13.5., 21.40 bis 23.50 Uhr; So 15.5., 23
bis 1.20 Uhr; Mo 16.5., 22.45 bis 1.10 Uhr.
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