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Faustrecht
der Freiheit
"Ich
will nur wieder so sein können, wie ich bin"
"Like
a bird on the wire,
like
a drunk in a midnight choir
I
have tried in my way to be free
Like
a worm on a hook,
like
a knight from some old-fashioned book
I
have saved all my ribbons for thee
If
I, if I have been unkind
I
hope that you can just let it go by
If
I, if I have been untrue,
I
hope you know it was never to you." (1)
Da
wird einer verhaftet, Klaus (Karl Scheydt), ein Schausteller, wie man sie früher
nannte, einer, der Sensationen präsentierte, auch "Fox, den sprechenden
Kopf". Fox (Rainer Werner Fassbinder) ist nun arbeitslos und hat seinen
homosexuellen Freund Klaus an die Polizei verloren. Das Ensemble muss gehen.
Auch Franz Bieberkopf - so Fox’ bürgerlicher Name - geht. Erst einmal zu
seiner alkoholabhängigen Schwester Hedwig (Christiane Maybach), deren Freund
im Knast sitzt und die kein Geld hat. Proletarier unter sich. Und ganz anders
als Bieberkopfs (den Namen entlehnte Fassbinder "Berlin Alexanderplatz")
weibliches, aber Mittelklasse-Pendant Petra von Kant im gleichnamigen Film kann
Franz keine Schönheit in das Spiel der Ökonomie einbringen, um die
Defizite im sozialem Status zu kompensieren.
Franz
ist zurückgeworfen auf sich selbst. Er trägt das Los seiner Klasse.
Und jetzt produziert der Regisseur Fassbinder etwas, was diesem Los der Klasse
eine leicht parodistische Nuance und zugleich einen sozialen Schub verleiht:
Er lässt Franz im Lotto gewinnen. Ein Traum wird Wirklichkeit. Dem Los
der Klasse hilft sozusagen ein Los der Klassenlotterie auf die Sprünge,
eine Art Katalysator, und doch eher der Schein eines Sprungbettes - wie man
im zweiten Teil des Melodramas sehen wird - und daher eben vor allem eine Art
fast schon märchenhafter Wink der (Lotto-)Fee mit der Ökonomie des
Geldes und ihrer unbarmherzigen Gesetze - so dass sich aus dem Märchen
nur ein Horror entwickeln kann.
Franz
ist das, was man einen "einfachen" Menschen, einen "einfältigen"
Menschen nennen könnte, wenn man ihn - und wie sollte man das anders sehen?
- im Rahmen des Ganzen der Klassengesellschaft einordnet. Er kann kein Französisch,
versteht nichts von gehobener Kultur und Tischmanieren, hat sich nicht im Zaum.
Über den schwulen Antiquitätenhändler Max (Karlheinz Böhm)
und den Lottogewinn von 500.000 Mark öffnen sich Franz die Türen zur
gehobenen homosexuellen Mittelklasse samt heterosexuellem Anhang. Er, der Klaus
verloren hat, trifft auf Eugen (Peter Chatel), einen, wie Franz sagt, schönen,
netten, aber auch "vornehmen und bekotzten" Vertreter seiner Schicht,
dessen Vater (Adrian Hoven) eine bislang gut florierende Großbuchbinderei
besitzt, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten ist. Während Eugen seinem
bisherigen Geliebten Philip (Harry Baer) den Laufpass gibt, spekuliert er auf
das Geld von Franz, nicht nur um den alteingesessenen Betrieb wieder auf Vordermann
zu bringen, sondern auch, um seinem eigenen Leben den ihm gebührenden Style
zu verpassen.
Franz
kreditiert das Geschäft mit 100.000 Mark, kauft Eugen und sich eine Eigentumswohnung
samt bei Max erworbenem Interieur im Wert von 80.000 Mark und nobler Edelkarosse.
Eugen, der Franz gegenüber mit vorgetäuschter Freundlichkeit und ebenso
vorgetäuschter Absicht, ihn in die Welt der gehobenen Mittelklasse einführen
zu wollen, andererseits mit offen zur Schau getragener Verachtung begegnet,
kalkuliert scharf.
Ein
Darlehensvertrag - abgeschlossen vor Dr. Siebenkäss (Rudolf Lenz), der
zur näheren Sippschaft um Eugen und Max gehört - scheint Franz abzusichern:
100.000 DM auf zwei Jahre bei 7% Zinsen. Aber schon hier haut man Franz über's
Ohr: Die versprochene Teilhaberschaft am Betrieb enthält der Vertrag nicht.
Zudem muss Franz im Betrieb von Thiess arbeiten. Als er an der Schneidemaschine
40.000 Exemplare einer Zeitschrift verschneidet, hat Eugen Franz endlich vollends
in der Hand. Er lässt sich die teure Wohnung samt Inventar überschreiben
- angeblich nur als Sicherheit gegenüber der Bank, die dem Betrieb ansonsten
keinen Kredit mehr geben würde.
Franz
ist psychisch am Ende. Er bekommt Valium verschrieben, weil er unter Herzschmerzen
leidet. Er spürt, dass Eugens Welt nicht die seine ist. Als er sich von
ihm trennen will, besitzt er fast nichts mehr. Für den Sportwagen bekommt
er gerade mal 8.000 Mark.
Franz
endet in einer Frankfurter U-Bahn-Station - ausgeraubt von zwei Kids und liegen
gelassen von Max und seinem Ex-Freund Klaus, dem er noch 30.000 Mark gegeben
hatte, damit er sich eine Existenz aufbauen konnte, weil beide "mit der
Sache" nichts zu tun haben wollen.
"Like
a baby stillborn,
like
a beast with his horn
I
have torn everyone who reached out for me.
But
I swear by this song
and
by all that I have done wrong
I
will make it all up to thee.
I
saw a beggar leaning on his wooden crutch
He
said to me, ,You must not ask for so much.'
And
a pretty woman leaning in her darkened door,
She
cried to me, ,Hey, why not ask for more?'" (1)
Es
dreht sich im Kreis. Zum Schluss sitzen Eugen und Philip als Paar wieder in
der von Franz finanzierten Eigentumswohnung. Fassbinder ist in "Faustrecht
der Freiheit" gnadenlos, was die Ökonomie der Ökonomie angeht,
und ebenso gnadenlos, was die Ökonomie der Liebe angeht. Dass der Film
im Homosexuellen-Milieu spielt, hat eigentlich, so der Regisseur selber, nur
einen dramaturgischen Effekt: Man schaut genauer hin. Und wenn man genauer hinschaut,
sieht man in Franz eher das "weibliche" Element, in Eugen das "männliche",
oder noch genauer: Franz handelt seinen Gefühlen entsprechend. Er ist in
Eugen verliebt, nicht in dessen Geld, dessen sozialen Status, dessen Herkunft,
sondern in ihn. Und so handelt er auch: aus Liebe gibt er, was er im Lotto gewonnen
hat - nicht aus Berechnung, nicht aus ökonomischem oder emotionalem Kalkül.
So
sieht es auch seine Schwester Hedwig: Franz sei dumm und primitiv. Franz ist
dumm und primitiv, weil er nicht begriffen hat, dass seine "einfache"
Liebe, seine Uneigennützigkeit in "stiller" Skrupellosigkeit
ausgenutzt wird.
Eugen,
sein Vater und Max sind die Schaltzentralen des Prinzips der Ökonomie der
Ökonomie. Und Eugen versteht es vorzüglich, Franz Gefühle für
ihn gnadenlos auszunutzen. Dem "Nur die Liebe vermittelt Beziehung"
setzt er gegenüber "Nur Geld vermittelt Beziehung". Max, der
gewiefte Vermittler zwischen den Welten, freundlich, immer leicht lächelnd
(und wieder einmal exzellent gespielt von Karlheinz Böhm, der in "Martha"
1973/74 gegenüber Margit Carstensen eine ähnliche, aber offen brutalere
Rolle spielte), durchschaut das Spiel, ist eigentlicher Initiator des von langer
Hand geplanten Betrugs an dem Proleten Franz.
Was
Franz aus Liebe gibt, nimmt Eugen aus ökonomischem Kalkül. So "ergänzen"
sie sich - bis das Geld alle ist.
Über
die konkreten Personen hinaus allerdings ist "Faustrecht der Freiheit"
eine ansonsten selten gesehene Kritik an den Mechanismen unserer Gesellschaft,
tiefgreifend bis in die Einzelheiten der emotionalen und ökonomischen Ausbeutung,
der Ausbeutung der Gefühle ebenso wie der Verfestigung der bestehenden
Strukturen - und obwohl melodramatisch, dennoch nie rührselig. "Faustrecht
der Freiheit" ist vielleicht Fassbinders dramatischster Film in dem Sinne,
dass er bis an die Grenzen des Erträglichen und damit bis in die letzten
Winkel der Realität geht.
Als
Franz spürt, dass er sich von Eugen trennen muss, sitzt er auf den Treppen
einer Art Arena in einem Gebäude, dessen Inneres von künstlichem Licht
bestrahlt wird, während Eugen ihm den Rücken zukehrt und Max vor Franz
steht, der den Kopf senkt. Wie in einer klassischen Tragödie ist das Opfer
ausgemacht, schon längst, bevor Franz es selbst jetzt bewusst ist. Er hat
alles verloren, und wenn er sagt "Ich will nur wieder so sein können,
wie ich bin", ist ihm längst klar, dass das nicht mehr so sein wird.
Franz
Bieberkopf ist - wie auch andere Hauptfiguren in Fassbinders Stücken -
nie der "Held", das Opfer, das sich aus seinen Zwängen bzw. den
Zwängen, die ihm andere auferlegen, befreit oder auch nur befreien könnte.
Fassbinders Perspektive geht über die Schmalspur-Sicht der Linken seiner
Zeit hinaus. Wenn sich Fassbinder der linken Utopie des "Gegenmodells"
stets verweigerte, dann exemplarisch etwa mit den Worten:
"Im
Moment kann ich mir das immer
nur
vorstellen als Gegenmodell, und
dann
ist es falsch. Das ist klar. Bei
einem
Gegenmodell hat es eben auch
das
in sich, wogegen es ist." (2)
In
den Gegenmodellen der Linken tauchte "das Alte" aber nie auf. Die
"Dem-Morgenrot-entgegen"-Gesellschaft war als Utopie immer etwas "ganz
anderes" als die Gegenwart - im Unterschied etwa zur stalinistischen Praxis
oder zum "kleinbürgerlichen Extremismus" der DDR-Gesellschaft.
Franz Bieberkopf gehört solchen Modellen ebensowenig an wie Petra von Kant,
Martha, Lola - oder welche Hauptfigur man aus Fassbinders Filmen auch nehmen
will. Fassbinder interessiert sich für wirkliche Menschen und wie sie sich
bewegen, denken und empfinden.
Der
Proletarier Franz scheitert an seiner eigenen psychischen und mentalen Disposition,
die in der Konfrontation mit der Ökonomie der Ökonomie gnadenlos scheitert
und scheitern muss. Das ideologisch verbrämte Postulat der individuellen
Freiheit entpuppt sich als Erneuerung des Faustrechts in gesetzlich eingefassten
Bahnen und mental eingeübter Praxis auf beiden Seiten, der "proletarischen"
wie der "bürgerlichen" - zwei Seiten einer Medaille.
•
D V D •
Sprache:
Deutsch (Dolby Digital 1.0)
Bildformat:
4:3
Dolby,
HiFi Sound, PAL
DVD
Erscheinungstermin: 5. Juli 2005
Die
von arthaus editierte DVD gehört zu jenen Produktionen, die sich durch
hohe Bild- und Tonqualität auszeichnen. Die Farben wirken frisch, als wäre
der Film erst vor kurzem produziert worden. Die bei amazon und jpc für
€ 16,99 erhältliche Scheibe enthält als Bonmot den neun Minuten langen
Kurzfilm "Das kleine Chaos" (1966), der allerdings schon auf anderen
DVD-Editionen zu finden ist (etwa auch bei "Mutter Küsters' Fahrt
zum Himmel", ebenfalls bei arthaus erschienen). Neben einer Fassbinder-Biografie
auf Texttafeln, dem Trailer und einer Fotogalerie enthält die DVD noch
Dokumente zum Film, leider aber keine Interviews, wie ansonsten bei arthaus
zumeist üblich. Trotzdem ist diese DVD für Fans (wie mich) natürlich
ein Muss.
Wertung
Film: 10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Wertung
DVD: 8,5 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
(1)
Leonard Cohen: Bird on the Wire.
(2)
Zit. n. Wolfgang Limmer: Rainer Werner Fassbinder, Filmemacher, 1981, S. 78.
Faustrecht
der Freiheit
Deutschland
1975, 12 Minuten (DVD: 118 Minuten)
Regie:
Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch:
Rainer Werner Fassbinder, Christian Hohoff
Musik:
Peer Raben, Josef Niessen
Kamera:
Michael Ballhaus
Schnitt:
Thea Eymèsz
Ausstattung:
Kurt Raab
Darsteller:
Rainer Werner FassbinderRainer (Franz "Fox" Bieberkopf), Peter Chatel
(Eugen Thiess), Karlheinz Böhm (Max), Harry Baer (Philip), Adrian Hoven
(Wolf Thiess), Christiane Maybach (Hedwig), Ulla Jacobsson (Eugens Mutter),
Hans Zander (Springer), Kurt Raab (Wodka-Peter), Rudolf Lenz (Dr. Siebenkäss,
Anwalt), Karl Scheydt (Klaus), Barbara Valentin (Max' Frau), Peter Kern (Florist
Fatty), Karl-Heinz Staudenmeyer (Krapp), El-Hedi ben Salem (Salem), Ingrid Caven
(Sängerin)
©
Ulrich Behrens 2005
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