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Freaks
Der
Liliputaner Hans tingelt mit einem Wanderzirkus durch die Lande, wo er gemeinsam
mit einer Handvoll anderer körperlich missgestalteter Menschen im Rahmen
einer "Freakshow" auftritt. Gerade weil sie täglich von den zahlenden
Gästen als "Missgeburten" und "Monströsitäten"
bezeichnet und verspottet werden, halten die Freaks zusammen wie Pech und Schwefel
- und ein ungeschriebenes Gesetz unter den "Andersartigen" verlautet,
dass jede Beleidigung eines Freaks mit einer Verleumdung aller Freaks gleichzusetzen
ist.
Frieda,
die ebenfalls kleinwüchsig ist, beobachtet schon seit einiger Zeit, dass
Hans alles versucht, die Aufmerksamkeit der schönen, "normalen"
Trapezkünstlerin Cleopatra zu erregen. Die nimmt seine Komplimente und
kostspieligen Geschenke dankend an, macht sich jedoch hinter seinem Rücken
bei ihrem wahren Liebhaber, dem Muskelmann Hercules, über ihn lustig. Das
Blatt scheint sich erst zu wenden, als sie von einem nicht unbeträchtlichen
Vermögen erfährt, welches ihr kleiner Verehrer geerbt hat. Sie beginnt,
seine Zuneigung zu erwidern - und mit dem hinterhältigen Plan, ihn später
zu töten und das Erbe anzutreten, wird schliesslich geheiratet. Erst auf
der folgenden Feier muss der vor Liebe blinde Hans einsehen, dass er einen schweren
Fehler gemacht hat - doch es ist bereits zu spät: Cleopatra hat seinen
Wein vergiftet, um Hans ins Jenseits zu befördern. Er überlebt zwar,
doch nun zieht sie endgültig den Hass seiner "Kollegen" auf sich.
In einer regnerischen Nacht nehmen sie fürchterliche Rache an den beiden
geldgierigen Zirkusstars. Die Freaks töten Hercules... und machen Cleopatra
zu einer der ihren!
Alles
begann damit, dass Irving Thalberg, damaliger Produktionsleiter von MGM, an
die Horrorerfolge der Konkurrenz Universal anzuknüpfen versuchte und schliesslich
Tod Browning beauftragte, einen Film zu inszenieren, gegen den Dracula wie ein
harmloses Kindermärchen aussehen sollte. Browning, der für das Studio
in den Zwanzigern bereits einige Gruselstreifen mit Lon Chaney (unter anderem
Der
Rabe von London
und London
After Midnight)
inszeniert hatte und später für Universal den berühmtesten Vampirfilm
dieser Zeit mit Bela Lugosi drehte, stimmte schließlich zu. In nur 36
Tagen entstand Freaks
nach der Kurzgeschichte Spurs
von Clarence Robbins, die erstmals im Februar 1923 im "Munsey´s Magazine"
abgedruckt worden war. Im Gegensatz zu den vorhergegangenen Filmen mit Lon Chaney
entschloss sich Browning, seinen Film so authentisch wie möglich wirken
zu lassen. So werden die titelgebenden "Freaks" von echten Missgebildeten
gespielt, die er weltweit auf Rummelplätzen oder in Zirkuszelten antraf
und zur Mitwirkung in diesem ungewöhnlichen Film überreden konnte.
Die Hauptrollen besetzte er unter anderem mit dem kleinwüchsigen Harry
Earles, mit dem er bereits bei The
Unholy Three
zusammengearbeitet hatte, sowie dessen Schwester Daisy, den Siamesischen Zwillingen
Violet und Daisy Hilton, die knapp dreißig Jahre später in dem Krimi
Chained
for Life
nochmals zu sehen waren, einer "bärtigen Frau" und "Randian,
dem lebenden Torso" (einem Mann ohne Arme und Beine, dem es aber trotzdem
gelingt, sich ohne fremde Hilfe eine Zigarette zu rollen und diese anzuzünden!).
Der Zwerg Angelo Rossitto dürfte wohl der berühmteste Kleindarsteller
in Browning´s skurriler Besetzungsliste sein, da er bis in 1986 immer
wieder in mehr als fünfzig Filmproduktionen auftauchte - darunter Mad
Max 3
und Galaxina.
Doch
Freaks
ist nicht nur wegen der Darsteller ein außergewöhnlicher Film: das
Werk beginnt eigentlich wie ein Drama, entwickelt sich in den letzten Minuten
zu einem Schauerstück und sprengt die Grenzen des Genres, indem die "Monster"
das Herz des Publikums für sich gewinnen können und die "Normalen"
entgegen aller Normen das Böse verkörpern. Heute zu einem Klassiker
geworden, wurde der Film damals von allen Kritikern, die ein wenig Wert auf
ihren guten Ruf legten, in der Luft zerissen - und bei den wenigen Aufführungen
in den Lichtspielhäusern soll es häufig vorgekommen sein, dass einige
Zuschauer sichtlich angeekelt den Saal verliessen! Ursache der heutzutage überstürzt
scheinenden Reaktionen waren die damaligen Moralansichten der Bevölkerung:
ein körperlich behinderter Mitbürger galt als Kuriosität und
gleichzeitig auch als Außenseiter, für den man sich schämen
musste. Ein Film, bei dem mehr als die Hälfte der Darsteller aus solchen
Personen bestand, musste zwangsweise das Moralempfinden der Zuschauer tief verletzen.
Dabei wurde die Tatsache, dass Browning mit Freaks
eigentlich das genaue Gegenteil bezwecken wollte, völlig außer acht
gelassen. Der Regisseur begleitete selbst einige Jahre einen Zirkus, nachdem
er sich im Alter von 16 Jahren in eine Artistin verliebt hatte. Mit Freaks
wollte er auf die klägliche Situation der "Andersartigen" aufmerksam
machen und Verständnis für das harte Leben dieser Leute wecken. Seine
"Freaks" sind freundlich, hilfsbereit und unvoreingenommen und bilden
eine große Familie, in die jeder aufgenommen wird, der keine Unterschiede
zwischen den "Normalen" und den "Anderen" sieht. Die eigentlichen
"Monster" sind in Brownings Film somit keineswegs die "Fehler
der Natur" (so ein Alternativtitel), sondern ausgerechnet die "Normalen",
welche sich mit ihrer Arroganz und Dummheit über die wehrlose Minderheit
stellen und diese wie Dreck behandeln. Insofern ist Freaks
ein Appell an Humanität und Gleichberechtigung. Die Zensoren sahen das
in den 30ern freilich etwas anders, und so verschwand der Film viele Jahre in
den Archiven. In England wurde das Werk für mehr als dreißig Jahre
verboten und wurde erst 1963 wieder aufgeführt! Für MGM entwickelte
sich Freaks
zum finanziellen Desaster, und Tod Browning´s Karriere, die nur ein Jahr
zuvor mit Dracula
ihren Höhepunkt erreicht hatte, war schlagartig beendet.
Heutzutage
gibt es von Freaks
keine vollständige Fassung mehr. Ein Drittel des ursprünglich etwa
neunzig Minuten dauernden Dramas wurde herausgeschnitten und ist seitdem verschwunden.
Zu den verlorengegangenen Szenen gehört auch der Tod von Hercules, bei
dem in der Originalfassung eine Kastration angedeutet worden sein soll. Das
Happy End, welches Hans und Frieda in einer Villa zeigt, wurde nachträglich
auf Wunsch des Studios eingefügt. Doch auch diese "Kurzfassung"
hat nichts von ihrer Intensität verloren. Das Handeln der Titelfiguren
ist jederzeit nachvollziehbar, sogar während der nächtlichen und verregneten
Jagd der "Freaks" auf Cleopatra und Hercules und die grausame Rache
an der hinterhältigen Frau, die Freaks
ins Reich des Phantastischen Films abgleiten lässt.
Christian
Lorenz
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Freaks
Freaks
Alternativtitel:
Die
Gezeichneten
Forbidden
Love
Nature´s
Mistakes
The
Monster Show
USA,
1932
64
Minuten, schwarz/weiss
Regie:
Tod Browning
Drehbuch:
Willis Goldbeck, Leon Gordon, Al Boasberg, Edgar Allan Wolf
Kamera:
Merritt B. Gerstadf
Musik:
Gavin Barns
Schnitt:
Basil Wrangell
Produktion:
Tod Browning
Harry
Earles: Hans
Daisy
Earles: Frieda
Olga
Baclanova: Cleopatra
Roscoe
Ates: Roscoe
Henry
Victor: Hercules
Wallace
Ford: Phroso, der Clown
Leila
Hyams : Venus
Rose
Dione: Madame Tetranelli
Olga
Roderick: Bärtige Frau
Randian:
Torso
Pete
Robinson: Skelett
Frances
O´Connor: Armloses Mädchen
Koo
Coo: Vogelmädchen
Angelo
Rossito: Angelino
Michael
Visaroff: Jean
Ernie
S. Adams: Kirmesbesucher
sowie:
Daisy
und Violet Hilton
als
Siamesische Zwillinge
Edward
Brophy und Matt McHugh
als
Gebrüder Rollo
Schlitzi,
Elvira und Jennie Lee Snow
als
"Nadelköpfe" (Pinheads)
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