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Das
grüne Leuchten
„Habt
ihr jemals die Sonne am Horizont untergehen sehen? - Ja sicher! - Habt ihr sie
verfolgt, bis der oberste Rand ihrer Scheibe den Horizont gerade berührte
und hinabtauchen wollte? - Sehr wahrscheinlich wohl. - Aber habt ihr die Erscheinung
bemerkt, die beim letzten Sonnenstrahl entsteht, wenn der Himmel ohne Nebel
und vollkommen klar ist? - Vielleicht nicht. - Nun, das nächste Mal, da
sich wieder Gelegenheit zu dieser Beobachtung bietet (sie ist sehr selten),
achtet darauf, daß es kein roter Strahl ist, den ihr sehen werdet, sondern
ein grüner Strahl, wunderschön grün, von einem Grün, das
kein Maler auf seine Palette bekommen kann, ein Grün, das die Natur nirgendwo
sonst mehr hervorgebracht hat, weder in der Farbenvielfalt der Pflanzen noch
in der Farbe der klarsten Meere! Gibt es ein Grün im Paradies, dann kann
es kein anderes als dieses Grün sein, das wahre Grün der Hoffnung.“
(aus:
Jules Verne: Das grüne Leuchten) 1)
Der
einzige „Liebesroman“ von Jules Verne handelt von einer Schottin, die sich weigert
zu heiraten, bevor sie nicht das „grüne Leuchten“ gesehen hat, denn nach
einer alten Legende könne sich derjenige, der es gesehen habe, nicht mehr
täuschen, wenn er der Stimme seines Herzens folge.
Auf
diese mystische, wunderbare Deutung einer Zeugenschaft dieses Naturereignisses
ist auch der gleichnamige Film Eric Rohmers programmatisch ausgerichtet. „Das
grüne Leuchten“ von 1985 ist Teil des Zyklus „Komödien und Sprichwörter“;
dem Film voran steht ein Zitat von Rimbaud: „Oh lass die Zeit rasch kommen,
da die Herzen sich entflammen!“ Titel und Motto spitzen uns an, stimmen uns
erwartungsvoll – doch mindestens 90 Minuten lang müssen wir uns auf Profanes
einlassen, auf die Odyssee des langen, verunglückten Sommerurlaubs der
Pariser Sekretärin Delphine (Marie Rivière), die es niemandem rechtmachen
kann, am wenigsten aber anscheinend sich selbst.
Delphine
weiß nicht, was sie will, aber sie weiß, was sie nicht will, nämlich
ihren Urlaub in Paris verbringen, obwohl ihre Freundin die gemeinsame Fahrt
nach Griechenland kurzfristig abgesagt hat. Sie probiert fast alles aus, was
Frankreich zu bieten hat, die Normandie mit einer Kusine und deren Freunden,
von denen keiner versteht, warum sie Vegetarierin ist, die Berge, wo sie sich
nicht wohlfühlt, weil es die Berge sind und die für sie nicht zum
Sommer passen. Am selben Tag schon tritt sie die Rückreise an. Und sie
liegt hoffnungslos allein am Strand von Biarritz, verloren im Lärm der
glücklich quiekenden Menschenmassen, denn die Wellen sind ihr zu nass.
Die zarte Delphine kann kein Schiff besteigen, und beim Anblick einer Kinderschaukel
wird ihr schlecht. Die Leute, denen sie begegnet, meinen es gut mit ihr, sie
wollen sie aufmuntern, manche sogar aufrütteln, sie zu ihrem Glück
zwingen, aber Delphine wird unwillig, abweisend, pathetisch, kapriziös,
und immer wieder bricht sie ganz einfach in Tränen aus.
Sicherlich
will sie einen Mann kennenlernen, aber sie hat dafür keine Strategie, wie
die abenteuerlustige junge Oben-Ohne-Schwedin, die weiß, dass man mit
den Männern spielen muss, um sie zu erobern. „Du musst ihnen zeigen, was
du hast!“ – „Ich wüsste gar nicht, was ich zeigen soll. Ich hab doch nichts
und ich bin doch nichts, und ich bin nichts wert.“ Tatsächlich ist Delphine
so naiv, dass sie an den Prinzen glaubt, der aus einer Welle hervorkommt. Tatsächlich
ist sie so eigen, dass kein Mann es ihr recht machen kann. Irgendetwas stimmt
ihr bei jedem nicht. Und es gibt keinen König Drosselbart, der ihr die
Lektion erteilt, dass sie selbst ihrem Glück im Wege steht, weil sie keinem
eine Chance gibt.
Aber
Delphine ist nicht hochmütig. Sie glaubt eher an ihre eigene Minderwertigkeit,
als an die der anderen. Und so ist auch ihre Lektion eine ganz andere: Je mehr
sie versucht, ihrer Einsamkeit zu entkommen, desto einsamer wird sie, desto
mehr muss sie ihr Anderssein, ihre Eigenart empfinden. Sie passt sich nicht
an; aber nicht, weil sie es nicht wollte, sondern weil es ihr unmöglich
ist. Es scheint keinen Ort zu geben, an den sie passt und keinen Menschen, zu
dem sie gehören könnte. Bei einem einsamen Spaziergang inmitten von
Grün erlebt sie bewusst die eigene Natur in ihrer radikalen Getrenntheit
von den Anderen. Aber irgendwie spürt sie auch das Verbindende, das trotz
des Individuellen bleibt: Die Form und Beschaffenheit der Pflanze, des Tiers,
des Menschen, der Seele: alles ist Teil derselben Natur, und die (die eigene,
die andere, jede) Natur trägt entweder ihren Sinn in sich - oder sie tut
es eben nicht.
Ganz
ähnlich wie Pierre, der Mann, der in Rohmers erstem Langfilm „Im Zeichen
des Löwen“ (1959) am Sommer, am Hunger, an seinen Zweifeln und seiner Einsamkeit
beinahe stirbt, stirbt Delphine eigentlich einen seelischen Tod. Sie findet
an bestimmten Orten hin und wieder rätselhafte Omen, Spielkarten; aber
tragen kann sie das nicht, und erst als sie – wie Pierre – das Suchen (oder
ihr Aufbegehren?) aufgibt, den Urlaub abbricht, erst als sie sich in ihr Schicksal
fügt, kann das Schicksal stattfinden. Oder In anderen Worten: weil sie
sich ihrer selbst und ihrer Individualität bewusster geworden ist?
So
wird aus einem „profanen“ Stoff am Schluss doch noch ein Märchen. Ob es
wirklich der Märchenprinz ist, dem sie auf dem Bahnhof begegnet, ob sie
und wo sie am Ende das „grüne Leuchten“ sieht oder nicht, ist dabei unerheblich,
denn sie hat gelernt, auf sich selbst zu hören - Rohmer würde sagen:
auf ihr Herz.
Und sie hat – und das ist das Märchenhafte
– erfahren, dass, wer zu seinem Herzen steht und wer sich einlässt, wer
vertraut auf den Gang der Dinge, oder auf den Zufall, oder auf den organischen
Sinnzusammenhang der Welt, von der Welt in seinem Leben nicht vergessen wird.
Rohmer
ist auf seine Art deshalb ein Christ, weil viel Mystik und viel Hoffnung und
Glaube in seinen Filmen steckt. Zuerst aber sind seine Filme geprägt von
großer Toleranz und unerschütterlichem Vertrauen in das Positive
in jedem Einzelnen – ob mit oder ohne einen Gott. Man wird in keinem Film von
Rohmer eine wirklich bösartige Figur finden, jeder kleine Egoist – und
es gibt kaum einen in seinen Filmen, der das nicht ist - ist bei Rohmer liebenswert,
da menschlich. Viele Dialoge übrigens sind improvisiert: Wenn eine ihrer
Bekannten Delphine aus reiner Nächstenliebe beinahe an die Gurgel springt,
damit sie endlich aus sich herausgeht und das Leben nicht an sich vorbei ziehen
lässt, wenn Delphine in ihrem vegetarischen Überzeugungsnotstand äußert,
der Salat sei ihr Freund, dann ist das bei aller Problematik natürlich
komisch. Komik und Humor lauern in Rohmers Filmen hinter jedem tragischen Satz.
Man muss es nicht hören, aber wer für feinen Humor noch ein Herz hat,
dem sei Rohmer wärmstens empfohlen! Wahre Komödien funktionieren nur,
wenn sie auf der Basis von Empatie und Wohlwollen entstehen, und wahre Komödien
schließen nie die Tragik aus, im Gegenteil, sie bedürfen ihrer. Rohmers
Figuren lügen, widersprechen sich, nerven, sind albern, aber all das kann
man ihnen schlecht übel nehmen, weil man sie verstehen kann, weil ihre
Wünsche, Hoffnungen, Beweggründe einsichtig und nachvollziehbar bleiben,
schlicht: weil ihnen ihr Menschsein nicht nur gewährt wird, sondern, weil
es im Mittelpunkt des Interesses steht. Eric Rohmer ist Menschenfreund – und
dafür liebe ich ihn!
Eine
indirekte, zumindest gedankliche, Fortsetzung von „Das grüne Leuchten“
ist übrigens das Rohmersche „Wintermärchen“ aus dem Jahr 1991 (der
Auftakt seines „Jahreszeiten-Zyklus“), welches das Grundthema neu aufnimmt,
variiert und zu einem ganz ähnlich märchenhaften - oder alternierend:
erbaulichen - Ende führt.
Andreas Thomas
Physikalisches:
Der
grüne Strahl kann drei verschiedene Erscheinungsformen annehmen:
1. Der
Grüne
Saum,
der mit einem Fernglas fast immer am oberen Rand der Sonne erkennbar ist und
der umso breiter wird, je tiefer die Sonne sinkt; gleichzeitig färbt sich
der untere Rand rot. Häufig bleibt er als grüner Streifen selbst nach
Sonnenuntergang noch sichtbar.
2. Das
Grüne
Segment,
welches entsteht, wenn sich das obere Segment der untergehenden Sonne durch
Luftspiegelungseffekte abtrennt und grün färbt. Dieser Erscheinungsform
geht gewöhlich eine starke Verzerrung der Sonnenscheibe voraus.
3. Der
eigentliche Grüne
Strahl
oder auch Grüner
Blitz
ist mit bloßem Auge äußerst selten zu sehen. Er gleicht einem
grünen Flämmchen oder Büschel und ist in dem Moment zu beobachten,
wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. Diese Erscheinung ist oft nur
den Bruchteil einer Sekunde, oder bei günstigen Bedingungen auch wenige
Sekunden lang zu sehen. 2)
Zitate
1) und 2) aus: http://www.meteoros.de/flash/flash.htm
Das
grüne Leuchten
LE
RAYON VERT
Frankreich
- 1985 - 98 min.
FSK:
ab 12; feiertagsfrei
Prädikat:
besonders wertvoll
Verleih:
Concorde, VPS (Video)
Erstaufführung:
21.5.1987/21.4.1988 Video/4.11.1988 ARD
Fd-Nummer:
26174
Produktionsfirma:
Les Films du Losange
Produktion:
Margaret Menegoz
Regie:
Eric Rohmer
Buch:
Eric Rohmer
Kamera:
Sophie Maintigneux
Musik:
Jean-Louis Valero
Schnitt:
Maria-Luisa Garcia
Darsteller:
Marie
Rivière (Delphine)
Sylvie
Richez (Sylvie)
Eric
Hamm (Edouard)
Vincent
Gauthier (Jacques)
Basil
Gervaise (Großvater)
Rosette
Béatrice
Romand
Marcello
Pezzatto
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