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Der
Kick
Es war vor vier Jahren passiert. In einem Dorf 60
km nördlich von Berlin trampeln drei Jugendliche einen vierten tot und
vergraben ihn neben der Jauchegrube. Der Kick war, daß das Opfer in den
Schweinetrog beißen mußte. Wer ihm dann mit den Springerstiefeln
auf den Kopf springt, hat ihn totgemacht. Ein Bordsteinbashing wie in "American
History X" (1999). Den Film hatten alle vier gesehen.
Rekonstruiert wird die Tat im Film "Der Kick"
nicht. Es gibt keine dokumentarischen Aufnahmen. Was wir sehen, sind zwei Schauspieler
auf einer Bühne. Die beiden spielen zwanzig Rollen. Die Jugendlichen im
Dorf, die Eltern, Erzieher, Staatsanwälte, Richter, Grabredner. - Köpfe
in ein und derselben Kulisse. Und nun das Ungeheure: der Film geht unter die
Haut. Als Zuschauer ist man involviert wie nie. "Der Kick" läßt
das, was ein Dokumentarfilm leisten könnte, weit hinter sich. Ich möchte
meinen, daß das, was im konzentrierten Spiel der Schauspieler an Intensität
entsteht, eine Gemeinschaftsleistung ist, an der der Zuschauer mitgewirkt hat.
Das Publikum gehört in die Credits des Films. Regisseur Andres Veiel ("Black Box BRD", 2001) ist etwas Ungewöhnliches und gleichzeitig
etwas Notwendiges gelungen: den Zuschauer einzubinden in die Wahrnehmung der
Wirklichkeit. Klar, daß "Der Kick" 2006 in Nyon den Grand Prix
der Visions du Réel bekam.
Klar auch, daß Feind- und Haßbilder nicht
bedient werden. Daß die Wirklichkeit kein Bild ist. Und daß wir
es uns nicht damit bequem machen können, ob wir dem, was die Köpfe
von sich geben, folgen können. Also Scheuklappen weg! Dann funktionierts:
der Film will nicht mit irgendwas überzeugen, sondern wir überzeugen
uns. Wir folgen nicht, wir werden aktiv. - Ja, ich komme ins Manifest. Die gute
alte Brechtsche Verfremdung war ja auch ein pathetisches Erlebnis gewesen, jei.
Darsteller und Dargestellte werden nie eins. Sie bleiben Identitätenvielheit.
Okay, ich gestehe, daß es meine Sternstunde war, den "Kick"
im Kino gesehen zu haben. Und nun zu den Fakten.
Andres Veiel hat monatelang mit den Leuten im Dorf
geredet. Daneben reden die Schauspieler Amts- und Erzieherdeutsch. Das kommt
nicht zusammen. Der Jauchegrubenfall läßt sich nicht erledigen. Wie
ist es mit der ökonomischen und sozialen Depravation im Nachwendedorf?
Aber zwei der Täter haben Lehrstellen. Wieso hält die Mutter ausländerfeindliche
Reden? Ist sie rechtsradikal? Oder ist sie im Gegenteil völlig normal,
weil alle so reden? Ist der Mord gar nicht so abseitig, weil er in der Mitte
der Gesellschaft passiert? Weil Morde halt passieren?
Der Film gibt zuverlässig keine Antworten. Dann
sind wir Zuschauer gefordert. Aha, die Wirklichkeit ist komplexer, als die Feindbilder
suggerieren. Wenn wir den Leuten im Dorf zuhören (was uns die verfremdende
Künstlichkeit des Films erleichtert), machen wir es uns zu leicht, Rechtsextremismus
diagnostizieren und fertig. Gewalt und Gewalterfahrung ist Nachwende-Normalität.
Es ist was zu tun. - "Der Kick" liefert hierfür Material. Und
Werkzeug.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text erscheint
auch in: Konkret
Der
Kick
Deutschland 2006 - Regie: Andres Veiel - Darsteller: Susanne-Marie Wrage, Markus Lerch - Länge: 82 min. - Start: 21.9.2006
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