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Kids
Kein
Mensch auf der Pressevorführung - zu der ich nicht als Kritiker, sondern als
"Lehrender, der auch mit Fotografie/Fotodesign/Fotokunst" zu tun hat,
eingeladen war: der pädagogische Zusammenhang wird uns weiter begleiten - hat
verstanden, was an Larry Clarks erstem Film nun so kontrovers gewesen sein
soll, daß der US-Verleih, eine Disney-Tochter, extra noch eine Subfirma gründen
mußte, weil die Disney-Zentrale diesen Film mitsamt seinen zu erwartenden
Einstufungen der Selbstkontrollen nicht tragen wollte. Noch ließ sich
ermitteln, was die "New York Times" ausriefen ließ, Eltern müßten
diesen Film sehen, er würde ihnen die Augen über ihre Kinder öffnen. Als würde
nicht Larry Clark jede einzelne Verworfenheit ihrer mißratenen Sprößlinge
ästhetisch und transgressionsbegeistert genießen, mithin vermutlich auch
billigen und weit über das aus realen Pubertäten gekannte Ausmaß von
Verworfenheit hinaus ausmalen. Auch wenn er, unter US-Medien-Bedingungen einen
verständlichen Opportunismus, neuerdings auch schon mal Erschrockenheit
raushängen läßt und seine eigene Familienvaterexistenz ins Spiel bringt, wenn
ihn die Interviewer in diese Richtung lenken. Dabei war seine erste Linie noch,
den unbestechlich authentischen Dokumentaristen raushängen zu lassen, der
nichts getan habe, als kommentar- und emotionslos abzubilden - da war es noch
um eine ästhetische Verteidigungslinie für einen von allen Beteiligten
offensichtlich für immens kandalträchtig gehaltenen Film gegangen. Dann aber
mußte auch die moralische Flanke gedeckt werden und schließlich mußte aus der
Orgie eine Warnung vor der Orgie werden: diese Chuzpe gab es zuletzt bei Oliver
Stones Doors-Film, dessen Darstellerin Meg Ryan wollte ihn schließlich auch als
"cautionary tale" verstanden wissen.
Beide
Strategien wurden bedingungslos gekauft. Begeistert kolportiert das "Art
Forum" die Story, wie Clark seinen authentischen Drehbuchautor authentisch
am Washington Square aufgelesen hat, wo dieser mit anderen authentischen Kids
authentisch abhing und zufälligerweise auch noch ein Drehbuch dabei hatte.
Dabei ist Harmony Korine alles andere als ein Straßenkid, sondern wird trotz
junger Jahre als förderungswürdiges Talent in der Szene rumgereicht. Seine
Freundin und Hauptdarstellerin von "Kids" Chloe Sevigny steht bereits
unter dem Schutz der Sonic-Youth-, X-Girl-Hip-Mode-Indie-Welt. Beide versichern
einer unglaublich patronisierenden Ingrid Sischy in einem
"Interview"-Interview, daß sie niemals ohne Kondom..., na dann ist ja
alles gut. Aber nicht authentisch.
Denn
außer einem rüden Umgangston, Schwulenfeindlichkeit, Pubertätsjungs-Sexismus
und Winzigstkriminalität (Melonendiebstahl!), ist das einzig Skandalöse, was
diese Kids in dem Film tun, bzw. ein besonders perfides männliches Kid ständig
tut, Geschlechtsverkehr ohne Kondom. Nun denn. Darüber kann man doch sprechen.
Sogar mit Frau Nolte. Clark nimmt sich den Komplementär-Mythos zum
allerreaktionärsten AIDS-Mythos, demzufolge die Schuldigen und Schwulen und
Ausschweifenden zu Recht erkranken. Bei ihm infiziert sich ein unschuldiges
Mädchen beim allerersten Mal. So wird dann die nicht minder mythische Figur
bedient, alle und jeden könne es überall und mit gleicher
Wahrscheinlichkeit treffen. Schuld ist ein Handsome Devil von einem Jungen
namens Telly, der es auf Jungfrauen abgesehen hat. Diese ziemlich fiese Idee
wird von dem - und hier wird mein Genörgel zusehends beginnen abzuebben -
böse-süßen Charme dieses Hauptdarstellers abgefedert, wenn er seinem Freund
unter dreckigen Prahlworten die an seinen Fingern gespeicherten Gerüche seiner
letzten Eroberung unter die Nase reibt. Das ist dann so souverän wie fiktiv wie
manieristisch, sexistisch und unpubertär, daß einen dieses Heldenlied auf den
Virgin Killer zwar noch politisch ärgern könnte, nicht aber mehr die
Vorstellung, hier solle tatsächlich ein relevanter und authentischer Fall
vorgestellt werden. Ebensowenig hat die auf guter alter
Last-Minute-Rescue-Dramaturgie aufgebaute "Story" irgendeine andere
als funktionelle Bedeutung: die vom Test zurückkommende Chloe versucht den
Jungfrauenkiller zu warnen, bevor er die nächste erwischt und gurkt dabei auf
der Suche durch alle coolen Kids-Plätze Manhattans. Niemanden interessiert
eigentlich, ob sie am Schluß Erfolg hat, sondern nur die Orte und Begegnungen,
die zu zeigen die Verfolgung Anlässe bietet. Dort hängen dann die angeblichen
Straßenkids in unrealistisch "integrierten" Gangs in viel zu teuren
Streetwear-Designer-Klamotten rum und arrangieren ihre süßen Kids-Körper mit
viel sommerlich unbekleideten Stellen zu erotischen Ensembles, die jede nur
denkbare homo- und heterosexuelle Phantasie bedienen.
Schon
die letzten Fotobücher Clarks - "1992", "Die perfekte
Kindheit" - bevorzugten zusehends die Sequenz und die Collage gegenüber
dem "für sich sprechenden", "schockierenden" Einzelbild,
oft mit Schrift, das die Ästhetik seiner früheren Fotobände prägte. Das ins
Daumenkinohafte lappende Layout unterstützte den filmischen Charakter und die
als Element dazu kommende recht eigenwillige Collagen-Ästhetik - Collage ohne
Überlappungsrhetorik, ohne Konfrontation, sondern als Comic-artiges Narrativ -
zeigten ein ähnliches Interesse an. Darüber hinaus geht "Kids" aber
nicht: alles, was Kino sonst noch zu bieten haben könnte, Charaktere, Dialoge,
Musik, Zeit- und Raumideen, wird allenfalls abgehakt, aber nicht entwickelt.
Geschichte und Gesichter fügen sich zu einem Clarkschen Bilderbogen, der sich
wie ein abgefilmtes Clark-Buch genießen lassen könnte, wenn nicht Calvin Klein
schon die ganze Zeit aus Clarks Teenage-Mythologie sich bedienen würde und
daher ein unbefangener Umgang damit auch für den Urheber nicht mehr möglich
wäre.
Clarks
Grundideen von Jugend, Delinquenz, Transgression und Dissidenz haben ja mehrere
Durchläufe gehabt. Persönliche Anteilnahme an dramatisch gescheiterten Fällen
hilflos-(selbst-)destruktiver Befreiungsversuche bildet die erste Phase
("Tulsa", "Teenage Lust").
Sozial"kritisch"-dokumentarische-authentische Beobachtungen bleiben
davon der zweiten Phase, die die zweite Hälfte von "Teenage Lust"
bildet. Seit den 90ern ist er auf der Suche nach einer mythischen
Teen-Substanz, die er nun weder erlebt, noch vorfindet, sondern selber
inszeniert. "Kids" gehört in diese dritte Phase, macht das aber nicht
klar, sondern verwechselt sich selbst ständig mit Vorgängermodellen und
-versuchsanordnungen. Die Teen-Substanz, Verantwortungslosigkeit und
Überschreitungsfähigkeit, ist natürlich immer nur als Co-Faktor mit anderen
Geschichten, Verhältnissen, Politiken, Bewegungen und Sexualitäten interessant.
Isoliert wird es dubios, besonders dann, wenn eine Verteidigung und Feier von
Teen-Spirit so leicht in eine Warnung an die Eltern umschlagen kann; wenn die
Überschreitung, die einem irgendwie süßen Boy-Subjekt zugeschrieben wird, darin
besteht, Mädchen zu demütigen, erniedrigen und zu infizieren.
Trotzdem
bleibt relativ unreflektiert, aber brillant inszeniert auch vieles von der
faszinierenden Seite von Clarks Obsession. Sie ist als Obsession sozusagen das
einzige Wahre in diesem Film, eigentlich auch das einzig Gerechtfertigte: die
Inszenierung von Kid-Körpern (männlich und weiblich) als souveräne, schöne
Subjekte, als endlose Galerie von Alter Egos eigener, wegen Pubertät verpaßter
Jugend ist als Ausdruck eines sich selbst unklaren politisch-sexuell-utopischen
Begehrens so erstmal unantastbar. Alles andere kann und muß man kritisieren.
Zum Beispiel, daß weder Jugend ohne Pubertät noch umgekehrt zu haben sind,
sonst zerfallen sie undialektisch in "Kids" und "Eis am Stiel
VI". Zu Beginn wird zweimal deutlich, wie prekär der Rahmen der hier
verhandelten Bilder und Ideen ist, der sonst nicht weiter diskutiert wird. Eine
sehr schöne realistisch-enervierende Szene beim Warten auf die
AIDS-Testergebnisse sagt mehr über die gesellschaftliche Dimension von
Krankheit als alle Spekulationen über "Tragik"; der Vergleich der
Sex-Gespräche von je einer Jungs- und einer Mädchengruppe, zeigt sehr schön wie
die Pubertäts-Jungs nur ficken, um anderen Jungs davon zu erzählen, die Mädchen
aber über Sex reden, um echte, beim Sex entstandene Probleme in den Griff zu
bekommen. Wenigstens das war nicht nur schön inszeniert, sondern auch schön
beobachtet.
Diedrich
Diederichsen
Kids
USA - 1995 - 91 min.
FSK: ab 16; feiertagsfrei
Prädikat: wertvoll
Verleih:
Senator/Central, Ufa (BMG)
(Video)
Erstaufführung:
9.11.1995/6.9.1996 Video/6.12.1998
Vox
Fd-Nummer: 31598
Produktionsfirma:
Independent Pictures/Miramax Films
Produktion:
Cary Woods
Cathy Konrad
Christine Vachon
Lauren Zalaznick
Regie: Larry Clark
Buch: Harmony Korine
Kamera: Eric Alan Edwards
Musik: Lou Barlow, John Davis
Schnitt: Christopher
Tellefsen
Darsteller:
Leo Fitzpatrick (Telly)
Chloe Sevigny (Jennie)
Justin Pierce (Casper)
Yakira Peguero (Darcy)
Sajan Bhagat (Paul)
Billy Valdes (Stanly)
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