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Das Leben des Sid Vicious
Hakenkreuz
auf Super 8: »Das Leben des Sid Vicious« (Die Tödliche Doris)
Der Super 8-Film war in den achtziger
Jahren ein leicht zugängliches und leicht einsetzbares Mittel, das von
den Erben gehütete Hitler-Exponat kaputtzumachen und auf austretende Flüssigkeiten
zu untersuchen, auf immer noch virulente Körpersäfte, Eiter, Blut,
Sperma. Es darf gekotzt werden. Ebenso gut lässt sich mit Super 8 aber
auch sachlich recherchieren, ob fiktiv, satirisch oder nicht. Herbert Achternbusch
griff 1985 zu diesem Format, um »Heilt Hitler!« zu drehen. Vierzig Jahre
nach Kriegsende ist Soldat Herbert in seiner Heimatstadt München auf der
Suche nach Hitler, »dem nationalen Ungeist«.
Im selben Jahr 1985 tritt Romuald
Karmakar - drei Jahre später Assistent bei Achternbusch (»Mixwix«)
- in einem seiner ersten Super 8-Filme selbst als Hitler auf. 19 Jahre alt war
er damals. Was trieb ihn an? Seine Antwort: »Punk, Fußball, Werkstattkino
und das Filmmuseum München.« Karmakar/Hitler im Film-Fake »Eine
Freundschaft in Deutschland«. »In diesem Film ist alles Dokumentarische
real und alles Fiktive nicht unbedingt falsch (Karmakar). Hitlers Freund erzählt
dazu einen Text, der von Historikern nicht belegt werden kann, zu dem aber wahre
Bilder gezeigt werden, alltägliche Plätze und Häuser, die es
sich gefallen lassen müssen, dass sie für Hitler einstehen.
Punk, Trash und Splatter verschaffen
sich Zugang zu Politik und Geschichte, dem ästhetischen und intellektuellen
Griff der offiziellen Interpretatoren entwunden, egal ob in München, Hamburg,
Berlin oder New York. Die Punkbewegung hatte mit dem Nationalen (»Deutscher
Film«) nichts am Hut. Stattdessen hatte die jüngste Filmszene Affinitäten
zur aktuellen Musik: zu den Sex Pistols. Sid Vicious, Pop-Heroe, flaniert auf
den Boulevards von Paris, ein großes Hakenkreuz auf dem Shirt. 1981 stirbt
er durch eine Überdosis Heroin.
Wenige Tage nach seinem Tod verfilmte
die Berliner Gruppe »Die Tödliche Doris« sein Leben (»Das
Leben des Sid Vicious«). Sid Vicious wurde von Oskar dargestellt, dem
zweieinhalb Jahre alten Sohn der Schlagzeugerin Dagmar Dimitroff. Ein Riesen-Hakenkreuz
bedeckt die zarte Kinderbrust. Klein-Oskar, gerade hat er das Gehen gelernt,
stapft vergnügt krähend durch Berlins Straßen. In seinen Augen
blitzen Lust und Tatendrang. Das alte Nazi-Symbol speist jetzt eigene Punk-Energien.
Es wirkt wie eine Droge, fremde Svmbole umzufunktionieren. Aber sag mal, ist
der Hakenkreuzträger jetzt Nazi? Die Stadtillustrierte Szene Hamburg verneinte im Mai 1983 die Frage
mit folgender Begründung: »Das Hakenkreuz macht aus dem Hauptdarsteller
der Super 8-Produktion noch keinen Nazi, denn Oskar Dimitroff war zur Drehzeit
erst zweieinhalb Jahre alt.«
»Das Leben des Sid Vicious«
spaltete die Zuschauer. »Gleich als der Film zum ersten Mal im Berliner
Arsenal-Kino lief, war die Provokation groß. Die Hälfte der Punks
sahen ihr Idol zumindest altersmäßig allzu stark reduziert.
Die Akademikerhälfte äußerte ideologische Bedenken. Alle anderen
wurden Doris-Fans, weil die Geste, mit der der Film sich Sachen aneignet und
sie für eigene Zwecke in Betrieb genommen hat, Mut macht und Spaß«,
resümierte TIP Berlin (18/1983).
Die widersprüchliche Rezeption
ist in einem Buch von 2004 nachzulesen: »Die Tödliche Doris - Kino«,
verlegt von Martin Schmitz und gefördert von der Berliner Senatsverwaltung
für Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie vom Hauptstadtkulturfonds.
Der New
Musical Express,
London, konzedierte am 8. Oktober 1983, dass der Film »aus vielen Gründen
in Deutschland anstößig« sei, was man verstehen müsse,
»aber wenn der Schock verflogen ist, bleibt die umwerfend einfache Metapher
einer unbewussten Kinderseele. Ein Meisterwerk!« - Auch mit dem, was Dave
Henderson in Sounds, London, im Juli 1983 schrieb,
kommen wir in der Nazifrage nicht recht weiter: »>Das Leben des Sid
Vicious< schildert das Punk-Idiom besser als Tausende von Wegwerfprodukten,
die erschienen sind, seitdem es Punk gibt.«
Das Hakenkreuz auf der Kinderbrust
erschüttert die Fundamente der Börse? Habe ich
das im Melody Maker vom 23. Juli 1983
richtig verstanden? »After all, the concept
of Nancy's murder by >Sid< - as played by toddlers - is really a quite
subversive one, and I can well imagine the foundations of the Stock Exchange
rumbling ominously - every time the two-year-old leading actor applies the rubber
knife and ketchup.«
Kaum eine Stimme, die sich erhebt,
um vor dem unbedachten Gebrauch des Nazisymbols zu warnen. Würde der Film
der nächsten Nazigeneration in die Hände arbeiten? Was sagt Spex, Hort der Weisheit in der deutschen
Musikszene? »Eine sehr witzige Satire« (März 1983). - Was blieb,
war Zuschauerreaktionen zu beschreiben und die eigene Position hintanzustellen.
Typisch war der Bericht der taz Hamburg vom 13. Juni 1983:
»Das war ein Film, der immerhin
noch die Gemüter in Bewegung setzte: empörte sich ein >kritisches<
Publikum, und daneben gab es schallendes, ansteckendes Gelächter. Solch
lustvoller Umgang mit Blut und dieses hemmungslose Aneignen von NS-Symbolen,
wie das in vielen Filmen zu beobachten war, durchbricht ein Tabu, schockiert
aber vor allem durch die Naivität. Die lustbetonte, spielerische Naivität
sucht - und macht schließlich Sinn, freilich ohne zu argumentieren. Die
heimliche Resignation in den linken Schützengräben des doktrinierten
Stellungskrieges wird hier ersetzt durch eine programmatische Lebenslust, die
ganz optimistisch alles will (und zwar sofort), die die Zukunft will (in der
Gegenwart) und zwar als Risiko.«
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Dietrich Kuhlbrodt: Deutsches Filmwunder – Nazis immer besser, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2006, konkret literatur verlag.
Das Leben des Sid Vicious
BRD 1981
Regie: Die Tödliche Doris
Buch: Max Müller/Nikolaus Utermöhlen
Darsteller: Oskar Dimitroff, Angie
Vertonung/Synchronisation: Wolfgang Müller
Musik: Sid Vicious, Die Tödliche Doris
Farbe, Ton, VHS, PAL, 12 Min., S8 mm Film übertragen auf
Video
Das Leben des Sid Vicious ist auf DVD erschienen im Mai 2007, als Bonusmaterial zum Film:
„Wir waren niemals hier“, veröffentlicht bei absolut Medien [www.absolutmedien.de]
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