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Letztes Jahr in Marienbad

 

 

 

 

Ein europäisches Hotel: Lange Korridore, weitläufige Gesellschaftsräume. Dicke Teppiche in ausgeschmückten Salons. Die Decken sind mit Ornamenten verziert und lassen schwere Lüster hängen. An den ebenfalls verschnörkelten Wänden hängen alte Malereien und Spiegel, jeweils in kunstvollen Rahmen. Die Gäste sind elegant gekleidet. Die Männer und Frauen stehen herum, unterhalten sich, genießen eine Theatervorführung in einem der Säle. Manche setzen sich, um beim Kartenspiel ihr Gegenüber kennen zu lernen. Draußen ein wohl gehegter, langgezogener Park. Präzis gemäht und akkurat geschert. Genauso exakt und vorausgeplant wie eine jede Kamerabewegung, jede abgezirkelte Aufnahme in diesem Film "Letztes Jahr in Marienbad".

 

Ein Mann: Seinen Namen kennen wir nicht, das Drehbuch nennt ihn "X". Er führt die Frau, ihren Namen kennen wir nicht, das Drehbuch nennt sie "A", durch die verwinkelten Gänge des Hotels. Er ist enttäuscht. Enttäuscht, weil sich "A" nicht an letztes Jahr erinnern kann. Damals, als sie sich beide das erste Mal sahen und eine Affäre teilten. Doch die Präsenz eines weiteren Mannes, auch seinen Namen verschweigt uns der Film, das Buch nennt ihn "M", den "A" eventuell liebt, führt dazu, dass sich beide trennen und sich für ein weiteres Treffen, ein Jahr später, verabreden. Ob "M" ihr Ehemann ist, bleibt unklar, aber er stellt eine Lebensbedrohung dar, sollte er "A" und "X" gemeinsam erwischen. "A" kann sich nicht an solche Ereignisse erinnern. Oder will sie es nur nicht? Ist "X" verrückt? Ist das alles ein Spiel?

 

"X" ist nicht nur Protagonist sondern zeitgleich, den gesamten Film über, Erzähler. Da "A" konstant beteuert, sich an die Ereignisse, zwölf Monate zuvor, nicht zu erinnern, versucht er durch eine exakte Beschreibung der vergangenen Geschehnisse ihr Gedächtnis aufzufrischen. Dabei präsentiert uns Regisseur Alain Resnais sowohl den Erzählenden als auch das Erzählte parallel zueinander. Der Film unterscheidet nicht zwischen Realität, Vergangenheit, Wahnvorstellung oder Traum. Egal, wie fragwürdig das Erzählte sein mag, der Film stellt es ohne Verfremdung und ohne Warnhinweis dar. "Letztes Jahr in Marienbad" ist wie kein Film zuvor. Es gibt keine lineare Geschichte, Zeit und Raum werden für einen Wirrwarr aus Erinnerung und Wahrnehmungsverzerrungen aufgegeben. Man kann nach dem Film nicht einmal erahnen, welchen Zeitraum der Film gerade abdeckte.

 

Die Geschichte, der keine erhellende Auflösung folgt und die keine eindeutige Interpretation verlangt, ist vertrackt und komplex wie ein Labyrinth. Die gleiche Metapher kann man auf die Optik von "Letztes Jahr in Marienbad" anwenden. Das Bild in Resnais' Meisterwerk bildet nie zwingend die natürliche Realität ab, sondern deutet ständig darauf an, dass es vielmehr die filmische, surreale Abbildung eines Traums oder einer anderweitig verfremdeten, subjektive Wahrnehmung beinhaltet. Resnais stellt die Zeit in Frage und zeigt uns beispielsweise ein und dieselbe Person mehrmals in einer einzigen Einstellung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen gleichzeitig in ein und denselben Frame. Bisweilen erfrieren sogar einige Akteure in eine Starre, während sich andere weiterbewegen. Resnais stellt auch die Natürlichkeit des Raums in Frage: In der wohl berühmtesten Einstellung aus dem Film blicken wir von einem barocken Balkon hinunter auf den weiten Garten. Menschen stehen unbewegt in der zementierten Mitte des Gartens. Während sie lange Schatten schlagen, fehlen diese vor den Bäumen, Statuen und Büschen. Das Filmbild muss vom Zuschauer daher genauso hinterfragt werden, wie das Foto durch "A", das "X" seiner Liebe übergibt, als Beweis, dass sie vor einem Jahr zusammen waren.

 

Die Filmsprache ist gebeugt, aber streng durchdacht. Sie ist lesbarer als der Inhalt an sich. Emotionen sind scheinbar nicht vorhanden. Ob die "A" den mysteriösen "M" liebt, können wir kaum ausmachen. Wer "M" ist und warum er mit anderen Männern seine Fähigkeiten mit der Schusswaffe übt, wird auch beim wiederholten Sehen nicht klarer. Und noch weniger wird man zu einer eindeutigen Antwort kommen, ob "X" seine ausgemalte Vergangenheit wirklich erlebt oder nur erfunden hat. Die Dialoge, die größtenteils "X" alleine bestreitet, sind banal, sie wiederholen sich und bieten kaum Hinweise auf die Entschlüsselung des Rätsels "Letztes Jahr in Marienbad". Doch so wie es nach den 88 Minuten Film keine klassische Auflösung gibt, bietet das Werk in seiner Gesamtheit keine metaphorische Auflösung. Es gibt keine Lösung, das Rätsel bleibt immer unklar. Den gesamten Film könnte man mit dem Kartenspiel vergleichen, dass "M" im Hotel vorstellt. Ein logarithmisches Spiel, bei dem er verspricht, immer gewinnen zu würden. "X" spielt dennoch mit, da es nicht unmöglich ist, zu gewinnen – obwohl "M" noch nie verloren hätte. Alain Resnais wird das Spiel, das sich "Letztes Jahr in Marienbad" nennt, auch nie verlieren, egal wie oft und wie aufmerksam man diesen Traum von Film verfolgt.

 

Auch wenn man nie in der Lage sein wird, das filmische Puzzle zu erfassen, den Code zu knacken, "Letztes Jahr in Marienbad" ist mit einem monotonen Orgelsoundtrack und seinen betörenden Bildern, die sich eindeutig in die Architektonik des Schauplatzes verliebt haben, ein besonderes Filmerlebnis. Ein Traum ohne Deutung, eine verschwommene Sicht voller versperrender Schleier. Ein surrealer, filmischer Sprung in eine ansprechende Illusionswelt irgendwo zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Jetzt und Damals. Während "Letztes Jahr in Marienbad" sich nie auf einen gegenständlichen Raum, nie auf eine eindeutig definierte Zeit festlegt, schwebt er konstant in einer irrealen Traumwelt, der sich kein Filmkenner entziehen wird.

 

Björn Last

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Mitternachtskino

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

Letztes Jahr in Marienbad

Originaltitel: Année dernière à Marienbad, L'. Frankreich/Italien, 1961. Regie: Alain Resnais. Drehbuch: Alain Resnais, Alain Robbe-Grillet (nach einem Roman von Alain Robbe-Grillet). Produktion: Pierre Courau, Raymond Froment. Kamera: Sacha Vierny. Schnitt: Jasmine Chasney, Henri Colpi. Musik: Francis Seyrig. Darsteller: Delphine Seyrig (A), Giorgio Albertazzi (X), Sacha Pitoeff (M). Schwarzweiß. 88 Min.

 

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