Der
letzte Tango in Paris
Was Ingmar Bergmans Das Schweigen für die 60er Jahre bedeutete, das war Der letzte Tango von Paris rund 10 Jahre später für die 70er: Das eigenwillige Werk
des damals 32jährigen in Parma geborenen Regisseurs Bernardo Bertolucci
schwor aufgrund seiner freizügigen Sex-Szenen einen öffentlichen Skandal
herauf, der ihm in Italien sogar ein Aufführungsverbot einhandelte. Nichtsdestotrotz
galt Bertoluccis sechster abendfüllender Spielfilm wahren Cineasten aufgrund
seiner ästhetischen Werte schon damals als echte Perle. Heute, im Zeichen
weitaus freierer Moralvorstellungen, hätten Bergman und Bertolucci mit
vergleichbaren Filmen zweifellos weniger für Aufregung gesorgt als zu ihrer
Zeit. Dieser tabubrechende Film des späteren Oscar-Preisträgers Bertolucci
(Der letzte Kaiser), der bereits im Knabenalter als Dichter Berühmtheit erlangt
hatte, bevor er mit Filmen im neo-realistischen Stil seines Ziehvaters Pier
Paolo Pasolini auch im Filmgeschäft bekannt wurde, bedarf daher sicherlich
einer für die 90er Jahre gültigen Neubewertung.
Es kann als unstrittig gelten, daß Der letzte Tango in formaler Hinsicht der bis dato gelungenste Film des Regisseurs
war. Die Kamera führte Bertoluccis langjähriger Weggefährte Vittorio
Storaro, der den großen Filmen berühmter Regisseure wie Carlos Saura
(Flamenco, Taxi) und Francis Ford Coppola (Apocalypse Now, Tucker) seinen eigenwilligen visuellen Stil aufgeprägt hat. Und auch
Der letzte Tango weist die für Storaro typischen Eigenheiten, die auch Bertolucci
berühmt machten, auf: Die Kamerabewegungen, die die Wege der Personen (oft
auch nur deren Handbewegungen) vorausahnen, das variantenreiche Spiel mit der
Tiefenschärfe und - in erster Linie - die kunstvolle Ausleuchtung der Sets.
Storaro taucht sie in ein weiches, vergilbt wirkendes Licht, das die Eintönigkeit
des dargestellten Lebens in Paris verstärkt. In einer der eindrucksvollsten
Einstellungen des Films untersucht Paul (Marlon Brando) das Badezimmer, in dem
seine Frau vor kurzem Selbstmord begangen hatte, während seine Schwiegermutter
(gespielt von Gitt Magrini, die hier wie in anderen Bertolucci-Filmen und auch
z.B. in Antonionis Rote Wüste gleichzeitig als Kostümbildnerin tätig war) das nebenan
gelegene Schlafzimmer aufräumt. Während Brando ein weißliches,
kaltes Licht bekommt, das dem unnahbaren, zynischen Charakter Pauls entspricht,
akzentuiert das warme, gelbe Licht, das Storaro im Schlafzimmer einsetzt, den
Gegensatz zu der herzenswarmen, um ihre Tochter trauernden Frau. Dann überbrückt
die Kamera den Zwischenraum zwischen den beiden Zimmern durch eine kurze Fahrt,
bis das Schlafzimmer, das sogleich von Paul betreten wird, bildfüllend
zu sehen ist und macht so deutlich, daß Paul an diesem Ort in das Leben
der Schwiegermutter eindringen und es dominieren kann.
Auch am Schnitt arbeitete mit Franco Arcalli ein langjähriger
Mitarbeiter Bertoluccis, der hier, wie auch in 1900 und La Luna nebenbei als Co-Autor fungierte. Seine Montage wirkt oft verwirrend
(wie bei der Anfangsszene, die den wegen dem Lärm der Straße schreienden
Paul mal in die eine Richtung und - nach einem kurzen Zwischenschnitt - in Fortsetzung
derselben Bewegung in die entgegengesetzte Richtung blickend zeigt), mal erschreckend
(wie bei den schnellen Schnitten zwischen der Halbtotale einer öffentlichen
Toilette und dem nur wenige Sekunden zu sehenden Gebiß, das sich eine
alte Frau gerade einsetzt).
So ergeben alle filmsprachlichen Mittel zusammengenommen die Grundstimmung,
die der Film anfangs etabliert: Er schwankt zunächst zwischen thriller-
und fast horrorähnlichen Elementen. Die Bestialität, mit der die Spuren
des blutigen Selbstmordes gezeigt werden, sprechen dafür ebenso wie die
Musik des lediglich durch einige B-Thriller bekannten Genrekomponisten Gato
Barbieri. Wie in einem Spukschloß wandelt Paul in dem Hotel, das er selbst
besitzt und verwaltet und in dem er sich mit seiner Mätresse Jeanne (Maria
Schneider) trifft, herum und schließt des Nachts die Türen der neugierigen
Gäste. Hier läßt der Schnitt keine sichere Orientierung im Raum
zu, um so verwirrender wirkt es, daß nach dem Schließen einer Tür
auf dem Gang nicht Paul, sondern Jeanne das Hotelzimmer betritt. Arcalli springt
gerne zwischen den Einstellungsgrößen hin und her, wobei der Wechsel
der Größenverhältnisse zwischen Figur, Raum und Skalierung den
Reiz ausmacht.
Das Hotelzimmer im Herzen von Paris erscheint als ein Ort im Niemandsland,
in dem Namen und Biographie nichts mehr zählen. Paul besteht auf dieser
Anonymität, da er mit seiner eigenen Vergangenheit brechen will. Daher
erfährt auch der Zuschauer anfangs noch nicht einmal die Namen der Hauptfiguren,
die ausschließlich durch ihre Handlungen vorgestellt werden (und die sind
ziemlich schnell - und ziemlich unvermittelt - sexueller Natur). Nur in der
schwerelosen Atmosphäre außerhalb aller sozialer Umgangsformen läßt
sich in der kalten, entindividualisierten Gesellschaft der Gegenwart noch die
wahre lustvolle Erfüllung finden: So die These Bertoluccis, die er, wie
auch andere Vertreter des europäischen Kinos, in vielen seiner Filme vertritt.
Dieser Weg führt geradewegs zurück in die eigene Kindheit, an die
sich Jeanne mehr und mehr erinnert und in die auch Paul - gegen sein Widerstreben
- zurückkehren wird, wenn er sich am Ende nach Jeannes tragischer Notwehr
vom tödlichen Schuß getroffen in eine embryonale Haltung zusammenkauert.
In der Zuflucht des geheimnisvollen Hotelzimmers fühlt sie sich wohl ("Es
ist schön, nichts voneinander zu wissen" und: "Ich fühle
mich wie ein Kind hier"). So kann sie sich wenigstens für kurze Zeit
von ihrem besitzergreifenden Verlobten (Jean-Pierre Léaud) emanzipieren.
Dieser verfolgt sie durch Paris, um eine Dokumentation über sie zu drehen.
Auch die Film-im-Film-Überlegung ist ein beliebter Topos des europäischen
Autorenkinos: So zeigt Bertolucci große Teile des Films durch die Kamera
des Filmemachers hindurch, unterlegt ihn mit dessen Musik und läßt
uns sogar manchmal den Ton durch seine etwas vom Geschehen entfernten Mikrofone
hören.
Leider verdrängt Bertolucci am Schluß die über eine
Stunde erzeugte surrealistische Atmosphäre zugunsten eines herkömmlichen
Beziehungsdramas. In dem Moment, in dem Paul die konspirativen Treffen in eine
bürgerliche Beziehung umzuwandeln versucht und dafür seinen Status
zwischen Realität und Lüge aufgibt, indem er Jeanne über seine
Vergangenheit aufklärt, hat der Film viel von seiner Spannung verloren.
Es sind die formalen und filmästhetischen Reize, die diesen Film auch über
ein Vierteljahrhundert nach seiner Uraufführung noch sehenswert machen.
Johann Georg Mannsperger
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Der
letzte Tango in Paris
Bernardo Bertolucci FRA/ITA 1973 D: Marlon Brando, Maria Schneider