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Lichter
der Großstadt
Der Tonfilm hatte seinen
Siegeszug bereits beendet, als Chaplin 1931 mit „Lichter der Großstadt“
nochmals einen Stummfilm drehte. Und es sollte nicht sein letzter Stummfilm
bleiben, denn fünf Jahre später folgte „Moderne
Zeiten“.
Hauptfigur in „Lichter der Großstadt“ ist Charlie, der Tramp, jene Kunstfigur
mit Stöckchen und Melone, die Chaplin bereits in unzähligen Filmen
verkörpert hatte. „Lichter der Großstadt“ ist auf den ersten Blick
eine Komödie voller Slapstick-Szenen, wie das Publikum sie von Chaplin
liebte, doch enthält der Film in stärkerem Umfang als seine Vorgänger
tragische Töne und satirische Spitzen. Letzteres sollte sich in „Moderne
Zeiten“ nochmals verschärfen, doch sind die sozialkritischen Töne
in „Lichter der Großstadt“ bereits stark ausgeprägt.
Dies wird schon in der
Eröffnungsszene deutlich, wo Chaplin die bürgerliche Gesellschaft
verspottet. Wir sehen eine Versammlung zur Enthüllung eines Denkmals und
wir hören die Reden der Honoratioren. Chaplin macht in dieser Sequenz deutlich,
dass er sehr wohl souverän mit dem Ton umgehen kann, dass er für seine
Darstellung aber keine Dialoge braucht. Statt verständlicher Sätze
hören wir von den Rednern nur quäkende Saxophon-Geräusche. Der
Inhalt der Politikerreden ist gleichgültig und nur hohle Pose. Als das
Denkmal enthüllt wird, sehen wir den schlafenden Tramp, der hier die Nacht
verbrachte und nun vor der aufgebrachten Menge auf köstlich respektlose
Weise vom Denkmal herabklettert. Als die Nationalhymne ertönt, müssen
alle strammstehen und Chaplin entlarvt hier die Lächerlichkeit der bloßen
Form.
„Lichter der Großstadt“
hat zwei Handlungslinien, die geschickt miteinander verschränkt sind. Da
ist zunächst als eigentliche Haupthandlung die Geschichte von Charlie und
dem blinden Mädchen. Der Tramp, der als völliger Außenseiter
der Gesellschaft gezeichnet ist, der jedoch im Gegensatz zu den Besitzbürgern
noch über Menschlichkeit und Mitgefühl verfügt, begegnet einer
jungen Blumenverkäuferin (Virginia Cherrill), von der sich sehr schnell
herausstellt, dass sie blind ist. Charlie kauft ihr für sein letztes Geld
eine Blume ab und wegen eines gerade wegfahrenden Autos glaubt das Mädchen,
Charlie sei reich. Sie kann sein schäbiges Äußeres ja nicht
sehen. Das Mädchen lebt mit seiner Großmutter zusammen in ärmlichen
Verhältnissen. Sie ist jedoch nicht verbittert, sondern versucht ihr Leben
positiv zu meistern. Charlie wird ihr noch mehrmals begegnen und sie unterstützen.
Diese Handlungslinie wird getragen von zarter Poesie und Menschlichkeit und
Chaplins Können bewahrt die Handlung davor in Sentimentalität abzurutschen.
Die Beziehung zwischen dem Tramp und dem Blumenmädchen wird in leisen Tönen
und Andeutungen entwickelt und wahrscheinlich ist eine solche Handlung nur in
der Form des Stummfilms glaubwürdig darzustellen, wie Chaplin instinktiv
erkannt hat.
Neben der poetischen
Haupthandlung steht die Geschichte von Charlie und dem Millionär. Charlie
trifft den Millionär (Harry Myers) an der Flussmauer als dieser sich gerade
ertränken will, weil seine Frau ihn verlassen hat. In einer großartigen
Slapstick-Revue, in deren Verlauf der Tramp und der Millionär zweimal ins
Wasser stürzen, gelingt es Charlie den Selbstmord zu verhindern. Der betrunkene
Millionär lädt Charlie zu sich nach Hause und dann in ein Tanzlokal
ein. Er schließt Freundschaft mit Charlie und schenkt ihm nach der morgendlichen
Heimfahrt gar seinen Rolls Royce. Diese Handlungslinie enthält eine Reihe
von Chaplins berühmten komischen Nummern. Die bekanntesten sind wohl das
Spagetti-Essen das zum Konfetti-Essen wird und die Szene in der Charlie eine
Trillerpfeife verschluckt und mit jedem Schluckauf unfreiwillige Signale an
Taxifahrer und streunende Hunde gibt.
Doch die Millionärshandlung
erschöpft sich nicht darin, einen komischen Akzent zur Haupthandlung zu
setzen. Chaplin bietet hier eine tiefer gehende Gesellschaftskritik. Symbolisch
wirkt in diesem Zusammenhang die Szene, wo der Tramp auf dem glatten Parkett
des Tanzlokals ausrutscht. Er ist zu naiv und ehrlich, um in dieser Welt bestehen
zu können. Sobald der Millionär nüchtern wird, kennt er seinen
angeblichen Freund, den Tramp nicht mehr und lässt ihn von seinem Butler
(Allan Garcia) aus dem Haus werfen. Nur in betrunkenem Zustand ist er menschlich
und großzügig. Nüchtern ist er der kaltherzige Kapitalist. Brecht
hat dieses Motiv später in seinem Drama „Herr Puntila und sein Knecht Matti“
ausgestaltet.
Mehrmals nutzt Charlie
die Großzügigkeit des Betrunkenen aus, um Geld von ihm zu erhalten.
Und jedes Mal verwendet er es dafür, dem blinden Mädchen zu helfen.
Sei es, dass er ihr alle Blumen abkauft oder ihr letztlich eine Operation ermöglicht.
Während der Millionär sein Geld entweder für sich behält
oder es für nutzlose Prassereien vergeudet, will der Tramp, der doch selber
nichts hat, sein bisschen Geld dafür verwenden, dem Blumenmädchen
zu helfen, dem es noch schlechter geht. Als Charlie erfährt, dass das Mädchen
und seine Großmutter die Miete nicht mehr bezahlen können, sucht
er nach Arbeit, um sie zu unterstützen. Wie nicht anders zu erwarten, scheitert
er, sowohl bei seinem Job als Straßenkehrer, als auch bei dem Versuch
als Preisboxer den großen Gewinn zu erlangen. Charlies Boxkampf, mit seiner
Technik den Ringrichter als Deckung zu nutzen, gehört zu den großen
komischen Momenten Chaplins.
Charlie liest in der
Zeitung, dass ein Wiener Arzt Blinden das Augenlicht wieder geben kann. Er trifft
am Abend den Millionär, der zum Glück betrunkenen ist, und ihm 1000
$ für das Mädchen gibt. Es folgt eine Szene mit Einbrechern im Haus
des Millionärs und nach einem Schlag auf den Kopf wird dieser nüchtern
und kann sich natürlich an nichts erinnern. Charlie wird des Diebstahls
beschuldigt und muss fliehen. Es gelingt ihm noch, dem Mädchen das Geld
für die Operation zu übergeben, dann wird er verhaftet.
Nach einigen Monaten
wird Charlie aus dem Gefängnis entlassen. Seine Kleidung ist jetzt noch
abgerissener als zu Beginn. Indem zwei Zeitungsjungen den Tramp zum Objekt ihres
Spotts machen, wird nochmals betont, wie sehr sein schäbiges Äußeres
ihn zum Außenseiter macht. Das Blumenmädchen ist inzwischen geheilt
und hat einen eigenen Blumenladen. Sie macht sich noch immer Hoffnung, dass
ihr Wohltäter, den sie ja für einen reichen Mann hält, vorbeikommen
könnte. Sie erkennt Charlie zuerst nicht, behandelt ihn aber trotzdem freundlich
und schenkt ihm eine Blume. In dieser Szene wird deutlich, dass das Mädchen
den Tramp in jedem Fall als Menschen akzeptieren würde. Erst als sie seine
Hand ertastet, erkennt sie ihn als ihren früheren Wohltäter. Diese
Schluss-Szene inszeniert Chaplin sehr ergreifend und sie kann so nur in der
Form des Stummfilms funktionieren. Kein gesprochener Dialog könnte die
Poesie dieser Szene ausdrücken, die bei Chaplin allein über Mimik
und Körpersprache vermittelt wird. Die Texttafeln reduzieren die Aussagen
aufs Wesentliche: „Du?“ - „Du kannst jetzt sehen?“ - „Ja ich kann jetzt sehen.“
Dieser Schluss verkörpert eine tiefe Menschlichkeit, wie sie nur selten
davor oder danach in einem filmischen Kunstwerk erreicht wurde.
Siegfried König
Dieser
Text ist nur in der filmzentrale erschienen
Lichter
der Großstadt
City
Lights
USA
1931, Regie: Charlie Chaplin, Buch: Charlie Chaplin, Kamera: Roland H. Totheroh,
Musik: Charlie Chaplin, Produzent: Charlie Chaplin. Mit: Charlie Chaplin, Virginia
Cherrill, Harry Myers, Florence Lee, Allan Garcia
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