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Moderne
Zeiten
„Moderne
Zeiten“ ist der letzte Film, in dem wir Charlie, dem Tramp mit Stöckchen
und Melone begegnen. Er ist der gleiche geblieben wie in den unzähligen
Filmen davor, doch die Welt, in der er sich behaupten muss, ist eine andere
geworden. Neun Jahre nach der Einführung des Tonfilms entschied Chaplin
sich dafür, sein Werk ein letztes Mal als Stummfilm zu drehen. Zwar wird
der Ton geschickt eingesetzt, doch seine Kunstfigur Charlie durfte nicht sprechen,
sein Ausdruck war die Pantomime. So ragt dieser Film als Anachronismus in die
Tonfilm-Ära hinein und ist doch viel lebendiger geblieben als die allermeisten
seiner Zeitgenossen. Es ist bemerkenswert, dass alle sinnvoll gesprochenen Sätze
im Film immer über technische Apparate erfolgen, sei es mittels einer Sprechanlage
oder vom Band. Damit demonstriert Chaplin seinen souveränen Umgang mit
dem Medium Ton und verweigert sich ihm zugleich.
Der
Film beginnt mit einem programmatischen Untertitel: „Moderne Zeiten. Eine Geschichte
der Industrie, des privaten Unternehmertums, des Kreuzzugs der Menschheit bei
ihrem Streben nach Glück“ ("'Modern Times.' A
story of industry, of individual enterprise - humanity crusading in the pursuit
of happiness"). Bereits
mit den ersten Bildern wird deutlich, dass dieses Motto ironisch gemeint ist.
In der Anfangssequenz sehen wir eine Herde Schafe, von der auf eine Menschenmasse
geschnitten wird, die zur Arbeit eilt. Die Identifikation ist eindeutig und
gibt den Ton für den ganzen Film vor. Der Tramp ist der gleiche, den wir
kennen, aber die Verhältnisse, in denen er sich behaupten muss haben sich
geändert. So wie die Welt härter geworden ist, wird auch Chaplins
satirische Antwort um eine Spur schärfer.
Die
Menschenherde strömt in die Fabriken und in der nächsten Szene sehen
wir, wie in einer Fabrik die Maschinen angeworfen werden. Ein Mann mit nacktem
Oberkörper legt die Hebel um und die Maschine, die das Fließband
antreibt und den Arbeitern das Tempo vorgibt, beginnt zu laufen. Bei diesen
Bildern stellt sich die Assoziation zu Fritz Langs „Metropolis“ ein.
Wie dort haben wir die archaische Situation von Arbeitern, die gewaltigen Maschinen
ausgeliefert sind und die von den Maschinen verbraucht und buchstäblich
gefressen werden, wie wir es in Chaplins Film zweimal zu sehen bekommen. Hinter
den Maschinen steht ein menschenverachtender Kapitalismus, dessen Gesicht uns
Chaplin auf einem gewaltigen Überwachungsmonitor präsentiert. Es ist
der Präsident der Firma „Electric Steel“ (Allan Garcia), der auf seinem
Schreibtisch ein unfertiges Puzzle liegen hat und der gerade die Comicseite
der Zeitung liest. „Halle 5 arbeitet zu langsam“, stellt er über Lautsprecher
fest und befiehlt das Tempo zu erhöhen. Es ist bezeichnend, dass die Arbeiter
hier nur als abstrakte Größen auftauchen. Ein Arbeiter ist kein Individuum,
kein Mensch, er ist Teil einer Produktionseinheit namens „Halle 5“ (im Original
„Section 5“). Der Unternehmer dirigiert die Gesamtfirma, wo die Arbeiter eine
Funktionseinheit der Maschinen sind.
Die
nächste Einstellung zeigt uns die Arbeiter am Fließband, die kaum
in der Lage sind mit dem Tempo des Fließbandes mithalten zu können.
Jeder muss in rasender Gleichförmigkeit den immer gleichen Handgriff ausführen,
ohne auch nur einen Augenblick Pause machen zu können. Bei der geringsten
Unterbrechung wird der Produktionsablauf gestört. Nicht einmal so kreatürliche
Verrichtungen wie Kratzen oder eine Fliege verscheuchen sind möglich. Chaplins
Meisterschaft kommt auch darin zum Ausdruck, dass er uns das Thema mit den Mitteln
der Komik verdeutlicht. „Moderne Zeiten“ ist eine Komödie, ein äußerst
witzige Komödie sogar. Aber die Komik hat hier in stärkerem Maße
als in früheren Chaplin-Filmen die Funktion satirischer Entlarvung.
An
besagtem Fließband treffen wir Charlie, wie er in gekünsteltem Ernst
versucht, sein Soll zu erfüllen. Der Tramp ist zum Fabrikarbeiter geworden
und das bekommt ihm gar nicht gut. Wenn das Fließband für eine kurze
Pause angehalten wird, so führt uns der Film in slapstick-haften Szenen
vor, welche Deformationen diese Art von Arbeit in den Menschen hinterlässt.
Charlies Körper bleibt in der Bewegung. Noch immer zucken seine Arme im
Reflex, auch wenn es jetzt gar keine Schrauben mehr anzuziehen gilt. Als Charlie
sich zu einer kurzen Raucherpause auf die Toilette zurückziehen will, scheucht
ihn der Chef, der gleich einem „Big Brother“ über seine Bildschirme die
ganze Firma kontrolliert, zurück an die Arbeit.
Die
kurzen Pausen dienen vor allem zum Essen. Und das Essen in jeder Form, der Hunger
und das Verlangen nach Nahrung sind ein zentrales Motiv des ganzen Films. Das
Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme, das Verlangen den Hunger zu stillen ist
das kreatürlichste Bedürfnis des Menschen. Wenn wir den Menschen von
allen sonstigen Attributen reduzieren, so bleibt am Ende als letztes Bedürfnis
das Essen übrig. In einer grandiosen Szene treibt Chaplin seine satirische
Kritik auf die Spitze. Der Chef erhält nämlich Besuch von einem Vertreter,
der ihm als neueste Erfindung eine Ernährungsmaschine (Feeding Machine)
vorführen möchte. Von einem Band spielt er uns die nötigen Produktinformationen
vor: Die Ernährungsmaschine macht Pausen überflüssig und senkt
die Lohnkosten. Natürlich wird Charlie als Versuchskaninchen ausgewählt
und wir sehen ihn in die Maschine eingepasst, wie ihm die Suppe direkt aus dem
Teller einflösst wird, wie ihm der Speisenschieber mundgerechte Stücke
in den Mund schiebt und wie der Maiskolbenhalter den Maiskolben an seinem Mund
entlang führt. Leider brennt die Maschine durch und Charlie wird regelrecht
gefoltert, auch wenn das Ganze gleichzeitig äußerst komisch inszeniert
ist. Bei einem zweiten Versuch erhält er gar irrtümlich Schrauben
statt Nahrung in den Mund geschoben.
Natürlich
ist die Ernährungsmaschine eine aberwitzige Übertreibung, aber in
dieser Übertreibung wird deutlich, wie menschenunwürdig die Arbeiter
behandelt werden. Am Nachmittag wird das Tempo des Bandes nochmals gesteigert
und ist nun endgültig nicht mehr zu schaffen. Charlie wird bei dem Versuch
seine Schrauben noch anzuziehen von der Maschine erfasst und symbolisch gefressen.
Er gerät zwischen die Zahnräder wie in einen Verdauungstrakt. Als
er aus dem Bauch der Maschine wieder befreit wird, ist er verrückt geworden.
Die Arbeit an und in der Maschine hat ihn zerstört und gleichzeitig befreit.
Sein Irrsinn kann nämlich zugleich als eine Flucht verstanden werden, der
Irrsinn als der letzte Bereich, den die funktionale Ordnung des Systems noch
nicht erfasst hat. In diesen Szenen gewinnt Charlie die Unbefangenheit und die
Anarchie des Tramps zurück. Er tanzt durch die Hallen und bis auf die Straße
und er richtet ein maximales Chaos an. Dann wird er ins Irrenhaus eingeliefert.
Der
nun folgende Teil des Film ist nicht mehr so einheitlich aufgebaut, sondern
besteht eher aus Einzelepisoden, die lose miteinander verbunden sind und vom
Stil her teilweise an die Zweiakter aus Chaplins frühen Jahren erinnern.
Nach seiner Entlassung aus dem Irrenhaus ist Charlie ohne Arbeit. Als auf der
Straße ein Lastwagen vorbeifährt und seine rote Signalfahne verliert,
hebt Charlie die Fahne auf und winkt hinter dem Lastwagen her. Eine Arbeiterdemonstration,
die gerade um die Ecke kommt, integriert Charlie und er wird als kommunistischer
Rädelsführer verhaftet. Wir sehen ihn in der Folge im Gefängnis
und danach beim Schiffsbau.
In
der Mitte des Films wird als zweite Hauptfigur ein barfüßiges Mädchen
(Paulette Goddard) eingeführt, der wir zum ersten Mal begegnen, als sie
im Hafenviertel Bananen für sich und ihre Geschwister stiehlt, um nicht
zu verhungern. Sie verkörpert eine unschuldige Wildheit und Lebensfreude.
Ihr Vater ist arbeitslos und bringt mit kurzen Gesten seinen ganzen Kummer zum
Ausdruck. Doch der Film vermittelt auch das kleine Glück dieser Rumpffamilie.
Als der Vater bei einer Demonstration erschossen wird, nimmt die staatliche
Fürsorge die beiden kleinen Schwestern mit, während das Mädchen
fliehen kann.
Als
das Mädchen Brot stiehlt, stolpert sie auf der Flucht vor der Polizei über
Charlie, der sich als Schuldigen an ihrer statt anbietet. Als dies nicht funktioniert,
isst Charlie sich in einem Lokal richtig satt und ruft anschließend selbst
einen Polizisten, da er nicht bezahlen kann. Im Gefängniswagen trifft er
das Mädchen wieder und den beiden gelingt die Flucht. Bei einer Rast auf
der Straße präsentiert uns Chaplin in einer Traumszene die Vorstellung
der beiden vom bürgerlichen Leben. Der Inhalt des Traums besteht vor allem
in dem Wunsch, sich satt essen zu können. Ansonsten widerspricht Charlie
mit seinem anarchischen Benehmen den bürgerlichen Konventionen.
In
der Folge findet Charlie noch dreimal Arbeit, jedes Mal mit dem erklärten
Ziel, für sich und das Mädchen ein Heim zu verdienen und genügend
zu Essen heran zu schaffen. Und jeder der Versuche endet damit, dass Charlie
wieder verhaftet wird. Seine erste Stelle ist die eines Nachtwächters in
einem riesigen Warenhaus. Der Hungrige soll den Warenüberfluss bewachen,
der nicht für seinesgleichen bestimmt ist. Charlie nutzt mit dem Mädchen
die Möglichkeit, sich satt zu essen und sich zu vergnügen. Einbrecher
entpuppen sich als frühere Kollegen und werden in die Orgie einbezogen.
Die nächste Stelle ist eine Variation der Anfangsszenen, jedoch ohne deren
satirische Schärfe. Charlie wird Assistent eines alten Mechanikers, der
eine große Maschine wieder in Gang bringen soll. Durch Charlies Versehen
wird er in der Maschine eingeklemmt, er wird gleichsam verschlungen, und muss
sich von Charlie füttern lassen. Diese Arbeitsszenen werden unterbrochen
von einem Idyll. Das Mädchen hat ein Heim für sie beide gefunden,
dass sich als alte Holzhütte entpuppt, die fast zusammenbricht. Charlies
Fantasie verwandelt es jedoch in ein Paradies, wo beide glücklich aus der
Dose frühstücken.
Als
das Mädchen als Tänzerin für ein Lokal entdeckt wird, besorgt
sie Charlie nach seiner letzten Entlassung aus dem Gefängnis eine Stelle
als singender Kellner. Es folgt ein letztes Slapstick-Spiel mit Essen und dann
ertönt zum ersten und letzten Mal Charlies Stimme. Doch Charlie spricht
nicht und er singt auch keinen verständlichen Text. Seine Gesangseinlage
ist rein lautmalerisch und dient als Unterstützung der Pantomime. Charlie
erntet großen Applaus, doch als das Mädchen wegen Landstreicherei
verhaftet werden soll, flieht Charlie mit ihm gemeinsam. In der letzten Szene
sehen wir die beiden auf der Straße. Charlie ermuntert das Mädchen
und sie ziehen gemeinsam in den Sonnenuntergang, während das Bild sich
ausblendet.
Charlie
passt nicht in die moderne Zeit. Der erste Abschnitt des Films zeigt seinen
Versuch, sich an das System anzupassen, was notwendig ins Fiasko führt.
Mit seiner Flucht in den Irrsinn verwandelt Charlie sich zurück in den
anarchischen Tramp, der in keine Ordnung einzufügen ist. Es ist bezeichnend,
dass die Figur des Charlie erst nach seiner Entlassung aus dem Irrenhaus mit
den bekannten Utensilien wie Stöckchen und Melone ausgestattet ist. Charlie
steht außerhalb jeder bürgerlichen oder kapitalistischen Ordnung.
Er ist die Verkörperung völliger Freiheit und zwar in dem doppelten
Sinne, dass er sowohl frei ist von jedem Zwang und jeder Ordnung, als auch frei
von jedem Besitz und jeder Sicherheit. Charlie ist der fröhliche Anarch,
er ist frei in einem Ausmaß, dass er für die Ordnung zur Bedrohung
wird. Doch etwas unterscheidet ihn vom Tramp in Chaplins früheren Filmen.
Charlie ist diesmal nicht mehr allein, sondern er ist bereit Verantwortung zu
tragen. Das Mädchen hat ein ähnlich hohes anarchisches Potential,
doch da sie eine Gemeinschaft bilden wollen, müssen sie notwendig Verantwortung
füreinander übernehmen. Doch sie sind nicht angepasst, wie die meisten
Menschen, die wir zu sehen bekommen. Sie sind „die Einzigen, die lebendig geblieben
sind in einer Welt von Automaten“, wie Chaplin selbst es formulierte.
Siegfried
König
Dieser
Text ist nur erschienen in der filmzentrale
Zu „Moderne Zeiten“ gibt’s im archiv mehrere Texte
Moderne
Zeiten
Modern
Times
USA
1936, Regie: Charlie Chaplin, Buch: Charlie Chaplin, Kamera: Roland H. Totheroh,
Ira Morgan, Musik: Charlie Chaplin. Mit: Charlie Chaplin, Paulette Goddard,
Henry Bergman, Allan Garcia, Chester Conklin, Stanley J. Sanford, Stanley Blystone,
Sam Stein.
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