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Die Reifeprüfung
Mitte der 60er Jahre fand auch in Hollywood die konservativ-prüde
Scheinheiligkeit der 50er ein Ende. Menschen hatten Sex, sogar in
tabuisierten Beziehungen, und ja, die jungen Leute hatten tatsächlich
keine Perspektive. In eine durch verstockte Rollenvorstellungen und
realitätsferne Benimmklischees definierte heile Welt, in der Kinder mit
Freuden in Vorortparadiesen aufwachsen, um genau so zu werden wie ihre
Eltern, platzte 1967 Mike Nichols' Coming-of-age-Komödie "Die
Reifeprüfung", und gilt seither als die Mutter aller verwirrten
Film-Teenager. Obwohl der Protagonist genau genommen gar kein Teenager
mehr war.
Benjamin Braddock (Dustin Hoffman in perfekter Tolpatsch-Manier in der
Rolle, die ihn berühmt machte) ist soeben mit dem College fertig
geworden, fast 21 Jahre alt, und hat keinen Plan, was er jetzt anstellen
soll. Ein Leben lang den "Ratschlägen" seiner Eltern gefolgt und sich
immer brav engagierend, muss Benjamin nun erstmals selbst entscheiden,
wie's für ihn weiter gehen soll - und ist komplett ratlos. Mitten in
diese Sinnkrise platzt Mrs. Robinson (Anne Bancroft, genial unterkühlt
und niederschmetternd sachlich), eine Freundin von Benjamins Eltern, die
ihm ein unmißverständliches Angebot macht: Ich will dich, ruf mich
einfach an, und sag mir wann und wo. Nach anfänglichem Zögern nimmt Ben
diese offene Einladung zu einer Affäre an und lebt zwischen Swimmingpool
und Hotelzimmer ziellos in den Tag hinein. Bis Elaine, Tochter der
Familie Robinson, heimkehrt, und sich die beiden jungen Leute gegen den
ausgesprochenen Willen von Mrs. Robinson ineinander verlieben.
"Die Reifeprüfung" verfügt über einen relativ knappen und wenig
überraschenden Plot, doch dafür ist dieser Film auch nicht berühmt geworden. Das Genie des Films ist fast
vollständig in der ersten halben Stunde gebündelt, in der Vorstellung von
Benjamin und der Welt, in der er sich bewegt. Schon die ersten Szenen des
Films, in denen Ben zunächst verloren in einem Flugzeug sitzt und dann
bewegungslos über eine Flughafen-Rollbahn vorwärts gleitet - an den
rechten Bildrand gedrückt, während links die Opening Credits eingeblendet
werden - veranschaulichen seine passive Willen- und Ziellosigkeit
(Aufnahmen, die übrigens wie zahllose andere Szenen des Films nur in der
originalen Widescreen-Fassung funktionieren. Die zurechtgestutzte
TV-Version ist hier - wie eigentlich immer - ein minderwertiger Ersatz).
Auf seiner Willkommensparty tummeln sich ausschließlich Freunde seiner
Eltern, die irgendwie wohl auch seine Freunde sind - ein eigenständiges
Leben scheint Ben nie gehabt zu haben. Mit minimalem Widerstand lässt er
sich herum kommandieren: Auch nach zahllosen gemeinsamen Nächten im
Hotelbett spricht er seine Liebhaberin immer noch höflich mit "Mrs.
Robinson" an. Genial und legendär die Szene, in der er im heimischen
Swimmingpool sein Geburtstagsgeschenk, einen Tauchanzug, vorführen soll.
Von seinen Eltern wortwörtlich ins kalte Wasser gestoßen, steht er
isoliert und ohne jeglichen Kontakt zu seiner Umwelt im Pool und weiß
nicht, was er tun soll. Ein Film, der mit solch kraftvoller und
brillanter Metaphorik arbeitet, hat keine langen Dialoge nötig.
Auch Mrs. Robinson macht sich bei der wohl berühmtesten (und besten)
Verführungsszene des Kinos Benjamins Wehrlosigkeit und mangelnde
Erfahrung (er ist ganz offensichtlich noch Jungfrau) zunutze. Dass sie
ihn lediglich als sexuellen Spielball gegen ihre eigene Langeweile
mißbrauchen will, geht schließlich jedoch ordentlich nach hinten los,
denn erst durch ihre Affäre entwickelt Ben genug Eigeninitiative um seine
Liebe zu Elaine überhaupt zu verfolgen.
"I want my future to be ... different" ist alles, was der deprimierte
Ben zu Beginn stammeln kann als ihn sein Vater fragt, was denn los sei.
Gefangen in einer Welt, die ihm falsch und heuchlerisch erscheint, aber
ohne zu wissen, wie es hinaus geht, steht er Pate für alle enttäuschten
Teenager zuvor und seither, die fühlen, dass ihrem Glück etwas im Wege
steht, aber nicht genau wissen, was eigentlich. Benjamins sexuelle
Unsicherheit und Tolpatschigkeit findet sich auch heute noch in aufs rein
Komödiantische beschränkten Teenie-Filmen wie "American Pie" wieder. Dass
dessen Hauptdarsteller Jason Biggs in einer Broadway-Adaption von "Die
Reifeprüfung" die Rolle des Benjamin spielt (an der Seite von Kathleen
Turner und Alicia Silverstone) schließt dann den Kreis.
"Die Reifeprüfung" ragt auch deshalb zwischen vergleichbaren Filmen
empor, weil die Macher es verstehen, signifikante Dinge in wenigen
Sekunden zu sagen, für die geringere Werke Minuten brauchen - und es
trotzdem nicht auf den Punkt bringen. Wenn Ben von Mrs. Robinson
verlangt, dass sie sich einmal ein bißchen unterhalten, bevor sie ins
Bett springen, und dann mit seinen oberflächlichen Smalltalk-Versuchen
plötzlich ihre alten Wunden aufkratzt, wird mit wenigen Dialogzeilen auf
subtile und schlichtweg geniale Weise der komplette Hintergrund von Mrs.
Robinson offen gelegt: Ihr Schicksal, ihre Motivationen, ihre
Lebenslügen. In kaum mehr als zwanzig Zeilen.
Wo andere Filme gnadenlos verklären würden, bleibt "Die Reifeprüfung"
eisenhart realistisch: Bei aller plötzlichen Willensstärke, mit der
Benjamin seine Liebe zu Elaine durchzusetzen versucht, es wirkt doch
immer ein bißchen so, als hätte er sich in diese Sache verrannt, weil sie
ihm den Halt und die Perspektive gibt, die er so sehr sucht und braucht.
Und wenn Ben und Elaine in der berühmten letzten Szene des Films - nach
der mutigsten und spontansten Aktion ihres Lebens - im Bus Richtung
Zukunft sitzen, hält Regisseur Nichols zwanzig Sekunden länger auf ihre
Gesichter, als es ein gewöhnlicher Kollege tun würde - und fängt so ein,
wie die Begeisterung des Augenblicks aus ihren Zügen weicht und die
Erkenntnis über das Geschehene und das große vor ihnen liegende Ungewisse
sich in ihr Bewußtsein schleicht.
Unterstützt durch den viel gelobten Soundtrack (der eigentlich nur aus
vier Songs besteht) des damals ultra-angesagten Duos Simon & Garfunkel
avancierte "Die Reifeprüfung" sofort zum Kultfilm. Dass er sich bis zum
heutigen Tage als einer der wichtigsten, einflussreichsten und besten
Streifen seines Genres gehalten hat, ist Beweis genug für die enorme
Klasse, mit der hier gearbeitet wurde. Die große "Wohin soll's
gehen?"-Frage, die sich jeder denkende Teenager mehr als einmal stellt,
wurde nie so treffend und markant eingefangen wie hier.
F.-M. Helmke
Dieser Text ist zuerst erschienen bei:
Die Reifeprüfung
The Graduate
usa 1967
105 min
regie: mike nichols
drehbuch: calder willingham, buck henry
cast: dustin hoffman,
anne bancroft,
katharine ross,
william daniels, u.a.
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