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Shoah
Unsagbares sagen
Claude Lanzmanns Film »Shoah«
(1)
Der Film beginnt mit einer idyllischen Landschaft: Heidekraut, Wiesen, Wälder
in der Ferne. Reste von Grundmauern zeichnen Areale in das Gras, eine „ecriture
morte", die die Geschichte hinterlassen hat. Eine Stimme sagt: „Schon damals
war es so ruhig. Niemand hat geschrieen." Kein Frieden, kein Schweigen
ist so mörderisch still wie die Stille über den Landschaften von Chelmno,
Auschwitz, Belzec oder Treblinka.
Auf einem Fluß unter Bäumen
gleitet ein Kahn, und ein Mann im Kahn singt ein deutsches Landserlied: „Wenn
die Soldaten durch die Stadt marschieren, öffnen die Mädchen die Fenster
und die Türen." Der Kahn fährt vorüber, die Stimme wird
leiser, bis sie verhallt. Aus dem Vorspann wissen wir: Der Mann im Kahn ist
der 47jährige Jude Simon Srebnik, der als Junge im Vernichtungslager Chelmno
durch einen Zufall der Erschießung durch die SS entgangen ist.
Stunden später in diesem
neuneinhalbstündigen, beispiellos qualvollen, beispiellos eindringlichen
Strom von Bildern und Erinnerungen begegnen wir Simon wieder; er erzählt,
was er als 13jähriger in Chelmno dachte: „Wenn ich hier einmal herauskommen
sollte, dann bin ich der einzige Lebende auf der Welt." Die Todeslager
vernichteten im Menschen eine Grundbedingung menschlicher Existenz: das Bewußtsein
für die Welt und dafür, daß es Leben gibt - das Leben mit seinen
Möglichkeiten.
(2) Claude Lanzmanns Film SHOAH,
schrieb Lothar Baier nach der Pariser Uraufführung im April 1985, sei „die
denkbar massivste Antwort auf Bitburg: die radikale, unaufhebbare Differenz
zwischen Tätern und Opfern wird wiederhergestellt." Dieser Film komme
zur rechten Zeit, „um in der neuen deutschen Mickymauswelt, in der Auschwitz
und die Vertreibung der Ostdeutschen dieselbe Bonbonfarbe annehmen, die Proportionen
zurechtzurücken."
Dieser Film selbst markiert eine
radikale, unaufhebbare Differenz zwischen Trauer und Vergessen. Zwischen der
Mickymauswelt derer, die sich wie Kanzler Kohl in der „Gnade der späten
Geburt" sonnen, und jener „ecriture", die Auschwitz auf unserer Erdoberfläche
und in unserer Geschichte hinterlassen hat, gibt es keine Kommunikation. Die
Sprachlosigkeit des unbedarften Geschwätzes ist die adäquate Verlängerung
jener sprachlosen Destruktivität, die Auschwitz der Geschichte hinzufügte.
Claude Lanzmann setzt dagegen: die „langage" unabänderlicher, durch
nichts zu beschwichtigender Trauer. Nach Resnais' NACHT UND NEBEL, nach Bossaks
REQUIEM FÜR 500 000 und Fechners PROZESS ist dies die wohl letzte und umfassendste
filmische Dokumentation über die Judenvernichtung: noch einmal eine besessene
Anstrengung, alles festzuhalten, was Opfer und Schlächter, soweit sie überlebten,
nach mehr als 40 Jahren zu sagen haben. Festzuhalten auch, was nicht gesagt
werden kann, weil die Stimme zerbricht, weil die Bilder der Erinnerung übermächtig
werden und namenloses Entsetzen alles, was Sprache vermag, nichtig erscheinen
läßt.
Zu SHOAH gibt es Superlative des
Kulturbetriebs mitzuteilen: In der Liste der „50 Top Grossing Films" der
Zeitschrift „Variety", also der geschäftlich erfolgreichsten Kinofilme
der USA, rangiert der Film im Dezember 1985 an 27. Position und zudem als einziger
Dokumentarfilm, noch weit vor Hits wie SUGARBABY oder SWEET DREAMS. Und es gibt
die üblichen Nachrichten aus der Provinz: Der Fernsehausstrahlung in unseren
Dritten Programmen wird sich der Bayerische Rundfunk nicht anschließen.
Der Bayerische Rundfunk - das ist die Mickymauswelt; SHOAH - das ist das andere.
(3) SHOAH dokumentiert Geschichte
und - kaum weniger intensiv und schmerzhaft - das Sprechen über Geschichte. Ihre Verlängerung
in die Gegenwart und das, was sie aus den Menschen gemacht hat. Die Überlebenden,
die Lanzmann in Israel, in Polen, in den USA, in Deutschland aufgesucht hat,
sind gleichermaßen Zeugen unfaßlicher Verbrechen wie der nicht minder
unfaßlichen Tatsache, daß nach diesen Verbrechen das Leben weitergegangen
ist. Alle „Verarbeitung" stockt bei diesem unüberbrückbaren Widerspruch,
der jeder Mitteilung eine abgründige Dimension hinzufügt - als liege
unter den gesprochenen Worten eine geisterhafte Schicht, die das Unaussprechbare
und wirklich Gemeinte für immer verschließt. Nicht nur das Zögern
mitten im Satz, das Stammeln, das Schweigen, die im Schluchzen erstickende Stimme
und der seelische Zusammenbruch vor der Kamera sind Abwehraktionen gegen Erfahrungen,
die den Überlebenden überfordern- vielmehr bekunden gerade die Gesten
der Rhetorik und selbst das für uns „unverständliche" Lächeln
jenes Mannes, der mit größter Präzision das Scheitern der Lagerrevolte
in Auschwitz analysiert, ein Verstummen vor der Geschichte: einen Widerstand,
der viele Masken anlegt, um zu verbergen, daß ein Weiterleben nur um den
Preis der Abtötung von Erlittenem möglich wurde.
Sprechen über Geschichte:
Die Mahnmale und Gedenksteine, die Grundmauern und Verbrennungsstätten,
das Meer von Findlingen in Treblinka, die überwachsene Selektionsrampe
am Bahnhof von Sobibor - all dies ist nicht Geschichte selbst. Es sind allenfalls
ihre Spuren. Und es ist eine zweite „ecriture", die der Mensch nach dem
Inferno über die Landschaft gezogen hat: eine ästhetische Zeichenwelt,
die - gleich, ob sie das Vorgefundene im Rohzustand belassen oder ihm Signaturen
und Symbole hinzugefügt hat - über Geschichte redet, Erinnerung oder Verdrängung, Beschwören
oder Schweigen „darstellt". Über den Todeszonen breitet sich eine
zweite Landschaft aus: unser Verhältnis zur Geschichte. Keine ästhetische
Bearbeitung dieser Geographie holt ihre historische Realität ein - umgekehrt
tritt uns gerade aus der Alltäglichkeit des Bahngeländes im heutigen
Treblinka, aus einer eintönigen Winterlandschaft jenseits der Lagertore,
aus der abendlichen Stille an den Ufern der Weichsel bei Chelmno, aus den Bildern
einer Kleinstadtidylle, die Auschwitz heißt, ein Erschrecken entgegen:
als könne keine Gegenwart sein, solange es eine Erinnerung an diese Vergangenheit
gibt. Die Kamera zeigt, halb verdeckt vom Grün der Bäume am Bahndamm,
ein Stationsschild: Treblinka. Wir blicken es ungläubig an: Es ist wirklich
nur ein Stationsschild.
(4) Immer wieder, wie unter Zwang,
fährt die Kamera auf das Lagertor von Auschwitz zu, den Gleisen folgend,
die in die Vernichtung führten. Sie schwenkt langsam endlose Reihen alter Güterwaggons
ab oder zwängt sich durch Schneisen, die von Baumreihen, Bahndämmen
gebildet werden, einem imaginären Fluchtpunkt entgegen. Klaustrophobie.
Die Lagerstraßen von Auschwitz, das Krematorium, die Verbrennungsöfen.
Die Kamera tastet Gänge und Wände ab, schlüpft in die Winkel
und Ecken einer mittelalterlich anmutenden Architektur, die nicht preisgibt,
daß sie Teil einer industriell arbeitenden Vernichtungsmaschine war. Eine
„subjektive" Kamera, die den Weg in den Tod nicht wiederholen, nicht „nachstellen",
allenfalls Zeichen dafür setzen kann, daß sechs Millionen Ermordete
ebenso viele einzelne, einmalige, unverwechselbare Subjekte bedeuteten und ebenso
viele einzelne Todesängste. Die Kamera führt unsere Augen, aber sie
täuscht nicht vor, daß wir uns in die unsichtbaren Opfer hineinversetzen
können. Sie berät unsere Gedanken, indem sie unsere Blicke dirigiert:
Auch Bildsprache -
Kamerabewegungen und Schnittfolge - ist hier ein Sprechen über Geschichte und ein Vorschlag, im Gedächtnis zu bewahren,
was Bilder nicht zeigen und Worte nicht beschreiben können. Und immer wieder:
Eisenbahnen. Es gab noch keinen Film, der eine so eindringliche Vorstellung
davon vermittelt hätte, daß Europa in den letzten vier Kriegsjahren
ein einziger riesiger Schauplatz von Todestransporten war, die, als „Umsiedlungsaktionen"
getarnt, über Berlin, Warschau und Lodz Tag und Nacht in die Lager rollten
- auf denselben Gleisen, die dem „normalen" Reiseverkehr dienten. („Es
gab Reisezüge und Sonderzüge", sagt der damalige Chef des „Fahrplanwesens"
von Krakau in Lanzmanns Kamera. Der Unterschied: „Ein Sonderzug mußte
höheren Orts bestellt werden." Auch heutzutage gebe es natürlich
Sonderzüge - wie solle man sonst den Massentransport von Gastarbeitern
bewerkstelligen können. Sprechen über Geschichte. In einigen seiner
Interviews zeigt Lanzmann: Die Sprache der Barbarei tappt nicht etwa in ihr
gestellte Fallen, sondern sie ist geheimnislos. Man muß sie nicht herauslocken,
man muß ihr nur zuhören.)
Eisenbahnen, die an Wäldern
und Dörfern vorbeifahren; der Qualm der Lokomotiven, die fliehenden Landschaften,
rangierende Züge, das Donnern der Räder, Magie und Monotonie immer
gleicher, immer wechselnder Bilder: Claude Lanzmann läßt nichts aus,
er ist von seiner Recherche besessen, und er teilt seine Besessenheit dem Strom
der Bilder, dem retardierenden Rhythmus, der ganzen extremen Ökonomie dieser
neuneinhalb Stunden mit. Er geht dabei soweit, den Mythos der Eisenbahn - und
aller Eisenbahnfilme - seiner „langage" zu unterwerfen, ohne diesen Mythos
zu denunzieren - aber auch ohne die Wirklichkeit der Vernichtungstransporte
im nachhinein zu ästhetisieren. Lanzmann riskiert den Zusammenstoß
zwischen Ästhetik und Katastrophe: Beide gehören zur Geschichte der
Produktion und der Industrie in unserem Jahrhundert. Es ist schwer, bei diesen
Bildern die schönen Eisenbahnfilme zu vergessen. Aber es wird nach diesem
Film auch schwieriger sein, einen Eisenbahnfilm zu sehen, ohne an die Transporte
nach Auschwitz und Treblinka zu denken.
(5) Claude Lanzmann ist Franzose;
die Aussagen der polnischen, israelischen und jiddisch sprechenden Zeugen läßt
er sich übersetzen. Seine Dolmetscherinnen sind oft im Bild zu sehen; die
komplizierte, zeitraubende Prozedur der Befragung über drei Stationen ist
Teil eines Experiments und einer Demonstration. Erforscht und demonstriert wird
das Sprechen über Geschichte: seine Schwierigkeiten, seine Redundanzen,
seine Fehlerquellen. Mit den deutschen Zeugen spricht Lanzmann deutsch, mit
seinen amerikanischen Gesprächspartnern englisch. Dabei unterlaufen gelegentlich
Mißverständnisse, die Nachfragen erforderlich machen, beide Seiten
zu größerer Genauigkeit anhalten. Kamera und Tonband laufen weiter,
auch wenn Pausen eintreten. Lanzmann schneidet nicht: Zur Recherche gehört
die Zeit, die sie benötigt; sie sträubt sich gegen den Verschnitt.
Lanzmann will mehr wissen über
den „Schlauch" von Treblinka, jenen schmalen Gang, durch den die Opfer
mit der Peitsche in die Gaskammern getrieben wurden. Er fragt einen der deutschen
Bewacher; die Antworten sind unpräzise; Lanzmann wiederholt die Fragen
mit detektivischer Beharrlichkeit, bis alles, restlos alles gesagt ist, was
nach vierzig Jahren im Gedächtnis haften geblieben ist.
Den Deutschen läßt
Lanzmann nicht direkt aufnehmen. Wir sehen einen VW-Bus mit Fernsehantenne vor
einem Einfamilienhaus; die Filmkamera zeigt das Innere des Wagens, Techniker
sitzen vor den Monitoren einer Videoanlage, sie richten die Antenne auf das
Haus und regulieren die Bildschärfe auf den Monitoren. Die Filmkamera filmt
das griesige Videobild ab, auf dem nun das Gesicht des ehemaligen SS-Manns zu
sehen ist: Er spricht über verwesende Leichen, über Blut, Dreck, faulendes
Fleisch vor den Todeskammern. Er sagt: „Treblinka war ein zwar primitives, aber
gut funktionierendes Fließband des Todes." Uber den Monitor wandert
unablässig ein breiter, schwarzer Bildstrich, verdeckt das Gesicht, gibt
es wieder frei. Die Überwachung eines ehemaligen KZ-Wächters: Die
Polizeitechnik, das Kontrollinstrumentarium ermöglichen diesen Dialog und
verfremden ihn gleichzeitig. Der Mann und seine Stimme kommen wie aus einem
Schattenreich.
Seinen jüdischen Gesprächspartnern
muß Lanzmann Qualen zumuten, die ihre Fassung zerstören, damit sie
uns - den Nachgeborenen oder Gleichgültigen - eine schwache Ahnung jener
Hölle vermitteln können, in deren Bannkreis sie seit mehr als vierzig
Jahren leben. Dazu bedarf es einer „Methode", die nicht nur unmenschlich
scheint: Gleich der inquisitorischen
Technik der Psychoanalyse muß sie Schutzschichten zerbrechen, um das traumatische
Material freizulegen. Mit einigen seiner Zeugen hat Lanzmann offensichtlich
eine Vereinbarung getroffen, va banque zu spielen: Erinnerung als Folter, als
Experiment mit ungewissem Ausgang.
Eine Szene in einem Frisiersalon
in Israel: Während er einen Kunden bedient, erzählt der Friseur, wie
er von der SS gezwungen wurde, den Häftlingen die Haare zu schneiden, bevor
sie ins Gas getrieben wurden. Die Kamera beobachtet ihn und den Kunden im Spiegel;
sein Bericht ist detailliert, seine Stimme fest, monoton und laut. Auf Lanzmanns
Aufforderung demonstriert er an seinem Kunden, wie den Opfern die Köpfe
geschoren wurden. Zwischenschnitte auf das Personal im Frisiersalon, die arbeitenden
Kollegen, die wartenden Kunden im Hintergrund. Groß das Gesicht des Friseurs:
Er kann nicht weitersprechen, er weint, weigert sich, den Bericht fortzusetzen.
Lanzmann - im off - besteht darauf, daß er weiterspricht. Dieser Kampf
dauert Minuten, während die Kamera unausgesetzt das Gesicht des Friseurs
beobachtet, sein Leiden rückhaltlos veröffentlichend: Die Adressaten
dessen, was unsagbar ist und doch gesagt werden muß, sind wir. Am Ende
gewinnt der ehemalige Häftling sein Gleichgewicht zurück und setzt
seinen Bericht fort; seine Stimme ist wieder fest, monoton und laut wie zuvor.
Diese Szene sprengt alle Normen
des Dokumentarischen. Sie dokumentiert nicht Geschichte, auch nicht allein Erinnerung
an Geschehenes, sondern eine notwendige Inszenierung: den Prozeß der Anamnese
als Maschinerie, die unter experimentellen Bedingungen in Gang gesetzt wird,
damit das Erinnerte sich befreien und Sprache werden kann. Ein Ritus, der bis
an die Grenze der Selbstzerstörung geht. Aber erst die Qual, die wir -
die Zuschauer - angesichts dieser extremen Situation verspüren, öffnet
uns die Augen für das Ausmaß des Grauens, das sich hinter ihr verbirgt.
(6) Es gibt unzählige Bücher
über die faschistischen Todeslager, und es gibt viele Filme, die sich von
den Büchern - von dem, was Bücher vermitteln können - nicht wesentlich
unterscheiden. SHOAH hingegen erarbeitet für das Thema eine neue Ebene
des filmischen Sprechens und filmischer Zeichen. Der Film bereichert das Medium,
indem er seine Grenzen - und die Grenzen dessen, was Menschen überhaupt
ausdrücken können - überschreitet.
Was die Judenverfolgung betreffe,
sagt der US-Historiker Raul Hilberg im Gespräch mit Lanzmann, gebe es ein
„automatisches Gedächtnis der Geschichte"; die Nazis hätten nur
wenig erfunden, sehr viel vom Judenhaß, auch von den Verfolgungsmethoden
der Kirche gelernt. Die Nazis erfanden: die „Endlösung", den Massenmord
als Kategorie und Resultat der industriellen Produktion. Kein Film zuvor hat
so deutlich gemacht, daß die Ausrottung von Millionen Schwerarbeit war,
zu der die Heloten der Todeslager, die „Kapos" und Angehörigen der
„Sonderkommandos", verurteilt waren. „Wenn die Technik dieses Niveau erreicht,
wird sie zur Kunst, die wiederum ihre eigene Ethik, ihre eigene Moral und selbst
ihre eigene Metaphysik hervorbringt", schrieb Jean-François Steiner
vor zwanzig Jahren in seinem Treblinka-Buch.
„Wir waren die Fabrikarbeiter
von Treblinka, und wir waren abhängig von dem ganzen Fabrikationsprozeß",
sagt im Film ein Überlebender der „Sonderkommandos". Und er beschreibt
die sonderbare Trance, in der er und seine Kameraden unter den Revolvern der
SS die technischen Bedingungen für den Gastod herstellten - eine Automatik
der Befehlsausübung, die nur unter Aussetzung der Verstandeskräfte
und jeglichen Gefühls funktionieren konnte: Tribut an die Entscheidung
fürs Überleben um jeden Preis. Daß es so etwas wie Kooperation
und Kollaboration zwischen den Schindern und ihren Opfern gab - eine „Zusammenarbeit"
im Fabrikationsprozeß des massenhaften Todes, eine Entmenschlichung auch
der Opfer -, ist wohl der erschütterndste Aspekt der Lager und eines der
traumatischen Rätsel, die sie der Nachwelt hinterlassen haben. Claude Lanzmann
spürt dieser Frage nach; das Bild endloser Menschenkolonnen, die sich wehrlos
wie in einem Alptraum in die Gaskammern bewegen, läßt ihm keine Ruhe.
Eine schlüssige Erklärung wird es niemals geben. Die Überlebenden
beider Seiten - dies macht der Film sehr deutlich - stehen noch heute unter
der Trance der Vernichtung, unfähig zu jener inneren Distanz, die erst
„Objektivierung" ermöglichen würde. Dies gilt auch für die
Organisatoren des Widerstands: Einer von ihnen liefert eine nachgerade mathematische
Analyse des Zusammenbruchs der Revolte in Auschwitz - und er bezeugt gerade
in der Hermetik, in der maschinell funktionierenden Präzision seines Denkens
eine vom Albdruck nicht erlöste Lagermentalität.
Der polnischen Regierung war dies
zuviel. Nach einer Ausstrahlung dieser Filmszenen durch das polnische Fernsehen
beschloß sie einen absurden Schritt: Noch vor der Pariser Uraufführung
protestierte sie in aller Form bei der französischen Regierung gegen SHOAH
und verlangte ein vollständiges Verbot des Films. Die Demarche ging natürlich
ins Leere. Daraufhin ließ sich die Spitze der polnischen Staats- und Parteiführung
den Film in einer geschlossenen Vorführung zeigen, um über das weitere
Vorgehen zu beraten: vier stellvertretende Ministerpräsidenten, vier Generale,
der Außenminister und General Jaruzelski persönlich.
Die Führung einer Partei,
mit deren unrühmlicher Geschichte antisemitische Pogrome und „Säuberungsaktionen"
auf das engste verbunden sind, nimmt Nachhilfeunterricht in Geschichte. Das
Ergebnis: Man schließt einen Kompromiß mit Lanzmann; es kommt im
Oktober 1985 zur Ausstrahlung eines 90minütigen Zusammenschnitts im polnischen
Fernsehen; in der anschließenden Diskussion wird der Film „einmütig"
verurteilt. Lanzmann erfährt später, die Regierung habe Fernsehreporter
auf die befragten polnischen Bauern angesetzt, um aus ihnen das „Geständnis"
herauszupressen, daß der Regisseur sie für ihre antisemitischen Äußerungen
bezahlt habe.
Die maßlose Arroganz und
Empfindungslosigkeit derer, die heute Macht ausüben, ist ein unlöslicher
Teil der Geschichte von Auschwitz und Treblinka.
(7) Simon Srebnik, für Lanzmanns
Film aus Israel nach Polen gekommen, um auf dem Fluß bei Chelmno noch
einmal das Lied von den Soldaten und den Mädchen zu singen, das ihn die
SS vor vier Jahrzehnten zu singen zwang - dieser ehemalige „Arbeitsjude"
löst in den Älteren der Dorfbevölkerung rund um das ehemalige
Lager Erinnerungen aus. „Das war die Ironie der Deutschen: Sie töteten,
und er mußte singen." Lanzmann schürft im Gedächtnis der
Polen, die damals die Züge in die Lager rollen sahen oder zu Zeugen jener
Lkw-Transporte wurden, auf denen die Juden an den ins Wageninnere geleiteten
Auspuffgasen erstickten. Er fragt Bauern und Bahnarbeiter, Kirchenbesucher und
Dorfautoritäten - und was er zu Tage fördert, ist erschreckend. Die
Mehrheit der Polen hat die Vernichtung der Juden begrüßt; viele verfolgten
die Transporte lachend am Straßenrand oder an den Bahndämmen - und
noch heute stößt Lanzmann auf dumpfen, halb „bodenständigen",
halb religiös motivierten Antisemitismus in der polnischen Bevölkerung.
Er dokumentiert, was er vorfindet; er gruppiert die Menschen vor einem Kirchenportal
zu einem ländlichen Tableau und läßt sie reden: das Volk und
was es denkt.
Klaus Kreimeier
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: epd Film 2/86
Zu
diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Shoah
(F/ Polen 1985)
Regie: Claude Lanzmann
Mitwirkende: Claude Lanzmann, Raul Hilberg, Rudolf Vrba,
Filip Müller u.a.
Länge: 566 Min. (9 Std., 26 Min.)
Zur DVD-Studienausgabe:
Der
über neunstündige Film ist mit der Studienausgabe von absolut Medien
DVD:
Verleih: absolut Medien
4 DVDs
Bild: 4:3, 1,33:1
Ton: mehrsprachige OF (Dolby Digital 1.0)
Untertitel: Deutsch, Englisch, Fränzösisch,
Spanisch
Extras: 24-seitiges Booklet als PDF mit biographischen
Angaben der Portraitierten und Zitaten Claude Lanzmanns auf DVD 4
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