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Short
Cuts
This
is The End
Zerstörung bringende Hubschrauberstaffeln eröffneten
„Apocalypse Now“, den legendären (Anti-) Kriegsfilm von Francis Coppola - Tösende Hubschraubertrupps ziehen ihre Bahn über das abendliche
Los Angeles. So beginnt Robert Altmans berühmtes „Short Cuts“.
„Die Zeit ist gekommen, wieder einmal in den Krieg zu
ziehen. Nicht gegen den Irak, internationale Terroristen oder das ehemalige
Jugoslawien, sondern gegen die Fruchtfliege...“ Mit diesen Worten lässt
Altman einen Fernsehkommentator „Short Cuts“ einleiten, den raffiniert verschachtelten,
großzügig komponierten Episodenfilm über das L.A. zu Beginn
der 1990er Jahre.
Nicht weniger als 8 Ehepaare aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten
stehen im Mittelpunkt dieses analytischen Reigens, kleine Familien, die scheinbar
willkürlich aus der weitläufigen Nachbarschaft des San Fernando Valley
herausgegriffen sind, denen, jede für sich, eine gleichermaßen alltägliche
wie dramatische Entwicklung widerfährt, Kleinsteinheiten, die sich gegenseitig
immer wieder touchieren. Berührungen, vom zufälligen Besuch desselben
Geschäfts bis zum Unfall mit Todesfolge. Die soziale Interdependenz eben,
ein Film als ein Mikrokosmos, der exemplarisch den Zustand einer Gesellschaft
vorführt.
Ein großspuriger Polizist (Tim Robbins), der versucht
seiner ewig krakeelenden Kinderschar, dem ihn ankläffenden Hund, in die
Arme geschiedener Frauen zu entfliehen, (wo er sich in ähnlichen Situationen
wiederfindet), eine Frau (Jennifer Jason Leigh), die während sie die Windeln
ihrer Tochter wechselt und ihr Mann, der Pool-Cleaner (Chris Penn) verstört
zuhört, die knappe Haushaltskasse mit Telefonsexdiensten aufstockt, ein
Paar (Andie McDowell und Bruce Davison), das hilflos mitansieht, wie der kleine
Sohn stirbt, die Bedienung in einem Drive In (Lily Tomlin), die sich von geilen
alten Anglern unter den Rock schielen lassen muss, ein von Kopfschmerzen gepeinigter
Arzt (Mathew Modine), der seine malende Ehefrau (Julianne Moore) verdächtigt,
fremdgegangen zu sein, eine egozentrische Jazzsängerin (Annie Ross), die
die Hilferufe ihrer Tochter (Lori Singer) nicht wahrnimmt. Alle leben in einem
dauerhaften Spannungszustand, in Unruhe, Aggressivität, die sich selten
oder nie entladen kann. Jedes dieser Familiengefüge ist gestört, wenn
nicht schon zerbrochen. Falls dazu Gelegenheit besteht, sich bewusst zu machen,
was falsch läuft, so gelingt es nicht, sich damit auseinander zu setzen,
oder nach Ursachen zu forschen. Der kalte Krieg ist zuende, der „Krieg gegen
die Fruchtfliege“ hat begonnen: Materielle Zwänge und eine schweigende
Übereinkunft mit dem alles dominierenden monetären und hedonistischen
Zeitgeist bestimmen die Lebensweise. Voller Sarkasmus und gereizt, selbst bei
ihren Freizeitbeschäftigungen, leben sie, wie sie es gerade können,
selten sind sie zufrieden, meistens überdreht.
Die Destruktivität, der Zynismus, der dieser Normalität
innewohnt, fordert kleine und große Tribute. Da ist es noch freundlich,
wenn der eifersüchtige Hubschrauberpilot in Abwesenheit seiner Ex-Frau
deren gesamtes Mobiliar zersägt (nur – und hier blitzt die Altmansche Satire
hell auf – der Fernseher überlebt), oder wenn der Konditor die Mutter des
schwer kranken Jungen mit anonymen Anrufen terrorisiert, nur weil sie derzeit
keine Angaben zur Dekoration der Geburtstagstorte machen kann. Vier Leichen
bringt dieses kalifornische Paradies hervor, keine von ihnen ist eines natürlichen
Todes gestorben. Die überarbeitete Drive-In-Bedienung reagiert zu spät,
als der Sohn des Fernsehmoderators vor ihrem Auto über die Straße
läuft. Die Tochter der Jazzsängerin kommt nicht über den Tod
des Jungen hinweg – vor allem aber nicht über die Unmöglichkeit mit
ihrer Mutter darüber zu reden zu können - und nimmt sich das Leben.
Ein Angler (Fred Ward) stellt fest, dass da, wo er gerade in den Fluss pinkelt,
eine weibliche Leiche - ein Mordopfer, wie sich später zeigt - angeschwemmt
wurde. Kein Grund für das Anglerquartett den Ausflug vorzeitig zu beenden.
Man befestigt die Tote und angelt neben ihr weiter bis zum nächsten Tag.
Die Normalität des Telefonsex als Job schliesslich macht den ehelichen
Verkehr zu etwas Unnormalen oder Unmöglichem, weil das Intime zu einer
Ware geworden ist. Der Gefühlsstau des derangierten Gatten entlädt
sich im Augenblick, als die Erde bebt...
Ein Erdbeben und ein „Krieg gegen die Fruchtfliege“.
Zwei Ereignisse werden von allen geteilt. In zwei Momenten, am Anfang und am
Schluss, erinnert der Film an die Einheit von Zeit und Raum diese Großversuchs.
Einleuchtend macht er den großen Aufriss und führt all die gesehenen
kleinen Schicksale - nicht nur für diese beiden Augenblicke - zu einem
umfassenden, gemeinsamen Schicksal zusammen. Beides, der angestrengte Kampf
des Menschen gegen Widrigkeiten der Natur (mit Mitteln, über deren Gefährlichkeit
Unklarheit herrscht), und der „göttliche“, allwissende Fingerzeig des Bebens
weckt auf wunderbare Weise Verständnis für das Wesen von Gemeinschaft
an sich, weil wir die einzelnen Partikel am Ende zu kennen scheinen, und weil
wir ahnen können, wie sie zusammengehören - und wie sie übergreifenden
Gesetzmäßigkeiten untergeordnet sind.
Irgendwann trifft der berühmte Fernsehkommentator
den Reiniger seines Pools und fragt: „Hey Jerry, wie läuft denn der Krieg?“
„Die Bösen sind am Gewinnen, Sir.“, antwortet der beiläufig. In eben
dieser Beiläufigkeit erzählt auch „Short Cuts“ von einer „Gesellschaft
ohne Verantwortlichkeit, Scham und Intimität“ (Lexikon des internationalen
Films), von einem als Frieden getarnten Kriegszustand. Der Film bedient sich
häufig überzeichnender Mittel, die insofern Satire „at it’s best“
sind, weil sie genau da die Realität treffen, wo sie am besten zu erkennen
ist: ein kleines bisschen ausserhalb ihrer selbst. Und „Short Cuts“ wimmelt
nur so von mitreißenden Schauspielern, die die Palette von der albernsten
Komik bis zur ernstesten Tragik spielfreudig und konzentriert beherrschen. „Short
Cuts“ ist lang, etwa 180 Minuten, doch „Short Cuts“ ist nie langweilig. Im Gegenteil,
je länger „Short Cuts“ dauert, desto süchtiger macht er nach diesem
ungeheurlichen, deprimierenden, aberwitzigen, nach Menschen riechenden, nach
Wahrheit schmeckenden Film.
Andreas Thomas
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Short
Cuts
SHORT
CUTS
USA
- 1993 - 188 min. - Scope
Literaturverfilmung, Drama
FSK:
ab 16; feiertagsfrei
Prädikat:
besonders wertvoll
Verleih:
Senator
Ufa
(Video)
Erstaufführung:
6.1.1994/26.9.1994 Video
Fd-Nummer:
30588
Produktionsfirma:
Avenue/Spelling/Fine Line
Produktion:
Cary Brokaw
Regie:
Robert Altman
Buch:
Robert Altman, Frank Barhydt
Vorlage:
nach Kurzgeschichten von Raymond Carver
Kamera:
Walt Lloyd
Musik:
Mark Isham
Schnitt:
Geraldine Peroni, Suzy Elmiger
Darsteller:
Andie
MacDowell (Ann Finnigan)
Bruce
Davison (Howard Finnigan)
Jack
Lemmon (Paul Finnigan)
Julianne
Moore (Marian Wyman)
Matthew
Modine (Dr. Ralph Wyman)
Anne
Archer (Claire Kane)
Fred
Ward (Stuart Kane)
Madeleine
Stowe (Sherri Shepard)
Tom
Waits (Earl Piggott)
Lily
Tomlin (Doreen Piggott)
Jennifer
Jason Leigh (Lois Kaiser)
Christopher
Penn (Jerry Kaiser)
Lili
Taylor (Honey Bush)
Robert
Downey jr. (Bill Bush)
Tim
Robbins (Gene Shepard)
Frances
McDormand (Betty Weathers)
Peter
Gallagher (Stormy Weathers)
Annie
Ross (Tess Trainer)
Lori
Singer (Zoe Trainer)
Lyle
Lovett (Andy Bitkower)
Huey
Lewis
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