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Uhrwerk
Orange
Kubricks
„A Clockwork Orange“ firmiert seit 30 Jahren als bissige Gesellschaftssatire
über die Frage, ob Staat und Gesellschaft das Recht haben, kriminelle Gewalt
dadurch zu bekämpfen, dass man dem „Gewalttäter“ den freien Willen
nimmt – wie im Film Alex DeLarge, der seine Geschichte vom „Gewalttäter“
zum „willenlosen Subjekt“ selbst erzählt. Ich meine, dass in dem durchkomponierten
Kunstwerk, das Kubrick 1971 in die Kinos brachte und das ihm Kritiken von „brutal
und inhaltsleer“ bis „bitterböse Satire auf die Entmenschlichung unserer
Gesellschaft“ einbrachte, wesentlich mehr steckt als „nur“ eine solche Kritik.
In Kubricks Filmen steht im Zentrum oft die „Frage der Gewalt“, aber nicht so
sehr in einem moralisch-ethischen Sinne, sondern tatsächlich als eine Frage,
mit der sich der Regisseur intensiv und vor allem im Hinblick auf die Genese
von Gewalt, auseinander gesetzt hat. Das gilt zumindest für „Full
Metall Jacket“
(1987) – Kubricks „Vietnam-Film“ – , „The
Shining“
(1980), „Lolita“
(1962) und „Spartacus“
(1960), in einem speziellen Sinn auch für „2001:
Odyssee im Weltraum“
(1968). Für „A Clockwork Orange“ nicht unwesentlich ist zudem der Zeitraum
der Entstehung des Films.
Alexander
DeLarge (Malcolm McDowell) erzählt seine Geschichte: „Das hier bin ich:
Alex, und meine drei droogs [Slang für: Kumpels]: Pete [Michael Tarn],
Georgie [James Marcus] und Dim [Warren Clarke]. Wir hockten in der Korova Milchbar
und wir überlegten uns, was wir mit diesem Tag anfangen sollten. In der
Korova Milchbar konnte man Milch-Plus kriegen. Milch mit Velocet [ein Halluzinogen].
Das heizt einen an und ist genau das richtige, wenn man Bock auf ein bisschen
äußerste Gewalt hat.“ Alex Lebensinhalt ist Gewalt – gegen einen
betrunkenen Penner (Paul Farrell) oder gegen eine rivalisierende Bande in Nazi-Kleidung,
die auf der Bühne eines verfallenen Opernhauses dabei sind, eine Frau zu
vergewaltigen. Alex und seine Gang träumen ebenfalls davon „to perform
a little of the old in-out, in-out“, von sadomasochistischem Sex und von Vergewaltigung.
Mit
bizarren Masken dringen die vier in das Haus der Alexanders ein. Alex trägt
eine Maske mit einer langen, phallusartigen Nase. Sie verprügeln den Schriftsteller
Frank (Patrick Magee) und vergewaltigen seine Frau (Adrienne Corri) vor seinen
Augen. Frank wird so schwer verletzt, dass er fortan im Rollstuhl sitzen muss,
seine Frau stirbt später, weil sie das, was man ihr angetan hat, nicht
verkraftet.
Wenige
Zeit später versuchen die vier, in das Haus der „Cat Lady“ (Miriam Karlin)
einzubrechen. Alex gelingt dies und er tötet die Frau mit einem großen
Kunststoff-Penis. Als er das Haus verlässt, schlagen ihn seine Kumpels
zusammen und die kurz darauf eintreffende Polizei nimmt ihn fest. Alex wird
zu 14 Jahren Gefängnis wegen Mordes verurteilt. Im Gefängnis beträgt
sich Alex vorbildlich, lässt sich nichts zu schulden kommen und ergreift
die Gelegenheit, sich einem Experiment des Innenministers (Anthony Sharp) zur
Verfügung zu stellen. Das sieht vor, dass der Delinquent aus dem Gefängnis
in eine Anstalt verlegt wird, in der er sich einer neuen Form der Behandlung,
der „Ludovico Treatment Technique“, unterziehen muss. Ziel dieser Technik ist
es, schon den Gedanken an Gewalt und Sexualität zu bestrafen. Alex Körper
und Kopf wird verkabelt, seine Augen mit Zangen offen gehalten, so dass er sie
nicht schließen kann. Er bekommt Tropfen in die Augen geflößt
und muss sich stundenlang gewalttätige Filme anschauen. Das Ergebnis der
zweiwöchigen Therapie: Sobald Alex auch nur an Gewalt oder Sexualität
denkt, wird ihm übel, schwindlig, es stößt ihn ab. Sogar seine
Widerstandsfähigkeit gegen Angriffe auf ihn ist nun gleich Null. Alex ist
nicht mehr der gewissenlose Gewalttäter, sondern ein willenloses Subjekt,
das keine Straftaten mehr begehen wird. Der Minister, die Ärzte und andere
Experten sind zufrieden. Das Experiment ist geglückt. Aber wie wird die
Umwelt auf diesen „neuen“ Alex reagieren? ...
„A
Clockwork Orange“ spielt in der nahen Zukunft, 1983. Der Titel des Films ist
ein Wortspiel – ein mechanisches, künstliches, roboterhaftes Wesen, „orange“
Orang-Utan, eine haarige affenartige Gestalt. Die Sprache der vier „droogs“
(Burgess nannte sie Nasdat) ist eine Mischung aus englischer und russischer
„vornehmer“ Sprache und Slang. Alex Interessen – Vergewaltigung, extreme Gewalt
und Beethoven – praktiziert er in einer polizeistaatsähnlichen Umgebung,
aber auch in einer von grellen, sich beißenden Farben, Plastikmöbeln,
moderner Kunst und kalten Räumen geprägten Atmosphäre des (sozialen)
Desinteresses und Egoismus.
Kubrick
inszeniert die gewalttätigen Szenen im ersten Drittel des Films virtuos
als Ballett, durchzogen von klassischer Musik oder sentimental-schönen
Hits wie „Singin’ in the Rain“, die – während der Vergewaltigung von Mrs.
Alexander – zur Perversität des Geschehens beitragen. Der zeitgenössische
Vorwurf, Kubrick habe damit zur Gewaltverherrlichung beigetragen, ist unsinnig.
Er inszeniert und visualisiert die Mentalität seiner zentralen Figur aus
dessen Sicht: Sein Leben ist eine Sinfonie aus Gewalt und gewalttätigem
Sex. Etwas anderes kennt er nicht, will er nicht. Kubrick fragt – scheinbar
– nicht nach der Entstehung dieser Mentalität. Das allerdings täuscht,
wenn man sich den Film als Ganzes vor Augen führt. Während er im ersten
Drittel den Eindruck erweckt, Gewalt würde von Personen ausgeübt,
die sich quasi außerhalb der Norm gestellt haben und deshalb verfolgt
werden müssten, offenbaren die Drohungen des Bewährungshelfers Deltoid
(Aubrey Morris) schon etwas anderes: Er verlangt von Alex, sich aus allem Schmutz
herauszuhalten, sich also einer freiwilligen „Gehirnwäsche“ zu unterziehen
– und greift ihm, während er dies sagt, fest an seinen Genitalien. Das
Normale erweist sich schon hier als Abstraktum, denn es rührt nicht aus
Erfahrung, sondern stellt sich gegen sie. Als Alex sich dem Experiment stellt,
in einem ambivalenten Sinne „freiwillig“ (denn wenn er es erfolgreich hinter
sich bringt, wird er freigelassen), setzt man ihm die „Dornenkrone“ auf. Alex
starrt – wie tot, mit aufgerissenen Augen – auf die Leinwand, die ihm die ganze
Gewalt der Geschichte und der Gesellschaft demonstriert. Die Abscheu, die dies
in ihm hervorrufen soll, entsteht – aber nicht aus einer allumfassenden Absicht
der Ächtung von Gewalt, sondern mit dem Ziel des Schutzes der legalen und
legitimen Staatsgewalt.
Die
Analogie zur Kreuzigung Jesus ist aus dieser Szene nicht wegzudenken: Die „Dornenkrone“
(Verkabelung), das „Kreuz“ (die Leinwand), die „Mörder“ des „freien Willens“
(Staat und Ärzte) – eine extreme Provokation, die jedoch einen realen Hintergrund
hat. Denn so abscheulich das ist, was Alex und seine Bande getan haben: die
„Mörder“ des „freien Willens“, der Widerstandsfähigkeit praktizieren
nichts anderes, als aus einem Menschen eine funktionierende Maschine zu kreieren,
einen disziplinierten Mechanismus, wie ihn „die Gesellschaft“ vermeintlich braucht.
„Die Gewalt“ erweist sich – wie man einzelne Akte der Gewalt auch beurteilen
mag – als zentrales, ja konstituierendes Moment von Gesellschaft. Sie entstammt
nicht Menschen, die sich außerhalb ihrer gestellt haben, sondern ihr selbst.
Existieren
die Polizei, die Staatsmacht nur, weil die Gewalt besteht? Oder umgekehrt? Keines
von beiden. „Verbrecher“ und „Staatsmacht“ sind zwei Seiten einer Medaille.
In „2001: A Space Odyssey“ gibt es eine ganz ähnliche Analogie, als einer
der ersten Menschen gezeigt wird, wie er einen größeren Knochen aus
einem Skelett aufhebt, ihn zunächst auf und ab bewegt, dann damit auf den
Boden schlägt und entdeckt, dass er mit der Wucht dieses, seines verlängerten
Arms töten kann, erst Tiere, dann auch Menschen. Das ist die Geburtsstunde
der Waffe, vor allem aber der Gewalt als sozialer Erscheinung. Wenig später
schmeißt er den Knochen in die Luft, Kubrick wechselt die Szene und zeigt
– Tausende Jahre später – ein Raumschiff – der moderne verlängerte
Arm der Gewalt. Die erfolgreiche Mutation eines gewalttätigen jungen Mannes
zum willenlosen, blutarmen Werkzeug verschafft ihm jedoch keine Ruhe. Zwei seiner
Freunde sind ebenfalls mutiert: zu Polizisten, die ihn zusammenschlagen, fast
ertränken.
Ein
Gegenentwurf zur christlichen Heilslehre? Vielleicht, aber nicht nur. „A Clockwork
Orange“ ist in meinen Augen vor allem ein kritischer Wurf gegen die Folgen und
Bedingungen der Aufklärung, gegen das, was man auch „Sozialdisziplinierung“
nennen könnte, gegen das von Foucault beschriebene „Gefängnis“, die
von Norbert Elias analysierte Einzwängung der emotionalen Bedürfnisse
in das zivilisatorische Korsett und die schleichende Disziplinierung, gegen
das allumfassende Bewerten, „Schubladisieren“, Einordnen, Interpretieren.
Der
Historiker Gerhard Oestreich, der sich mit den Folgen sozialdisziplinierender
Prozesse beschäftigte, zitierte in einem seiner Aufsätze den Anarchisten
Proudhon: „Proudhon hat in einem Satz die Gesamtwirkung [von Sozialdisziplinierung]
in der Sicht eines Anarchisten beschrieben: ‘Regiert sein, das heißt unter
polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit
Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt,
kontrolliert, eingeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden [...], bei
jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert,
erfasst, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizenziert,
autorisiert, befürwortet, ermahnt, verhindert, reformiert, ausgerichtet,
bestraft zu werden.’ Das sind die negativen Resultate, mit denen wir auch heute
noch nicht fertiggeworden sind« (1).
Kubricks
Film erscheint wie eine satirische, bitterböse Farce über diesen Prozess,
zu einer Zeit, als sich Menschen aufmachten, die Schrecken der Vergangenheit
aus ihrer Verdrängung zu treiben, sich aber gleichzeitig neuen (alten)
Ideologien über den „neuen Menschen“ verschrieben. Einem der Opfer von
Alex, dem Schriftsteller Alexander, steht die Wut, der Hass im Gesicht geschrieben,
als er Alex aufpäppelt. Alexander ist Gegner der Ludovico-Technik, aber
als er erkennt, dass Alex der Peiniger seiner Frau ist, steigt auch in ihm die
Bereitschaft zur Gewalt. Der Fortschritt und das fortschrittliche Denken verkehren
sich in die Bereitschaft zum Mord, von der Alexander nur deshalb keinen Gebrauch
macht, weil der Innenminister sein erklärter Gegner ist.
„A
Clockwork Orange“ ist nach 30 Jahren ein für mich noch immer aktueller,
sehr gegenwärtiger und gegenwartsbezogener Film. Das, was man mit dem Begriff
„Diktatur“ umschrieben hat, ergießt sich heutzutage nicht mehr so sehr
aus den inszenierten Gesten eines „Führers“ und dem schlachtenden Hinlangen
seiner Adjutanten und Helfershelfer; sie ist subtiler geworden, schleichender,
unmerklicher. Sie diszipliniert uns, ohne dass wir es unbedingt bemerken. Sie
überzieht uns mit einer Normalität, die wir uns oft empörend
weigern auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.
Ulrich
Behrens
(1)
Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des modernen Staates. Ausgewählte
Aufsätze, Berlin 1969, S. 195 f.
Dieser Text ist zuerst erschienen bei CIAO.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Uhrwerk
Orange
[A
Clockwork Orange] Großbritannien 1971
Start:
23.03.1972
Verleih: Warner-Columbia
Laufzeit:
137
FSK:
12
Drehbuch:
Stanley Kubrick
Regie:
Stanley Kubrick
Darsteller:
Malcolm McDowell, Patrick Magee, Michael Bates, Warren Clarke, John Clive, Adrienne
Corri, Carl Duering, Paul Farrell, Clive Francis, Michael Gover, Miriam Karlin,
James Marcus, Pete
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