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Der
Wald vor lauter Bäumen
Die
junge Lehrerin steht an der Tafel. Merklich unsicher ist Melanie Pröschle
(Eva Löbau),
weder dem Job gewachsen, für
den sie ihren Heimatort verlassen hat und in die Fremde gezogen ist, noch den
Kindern, die sie unterrichten soll. Kaum ein paar Worte hat sie an die Tafel
geschrieben, schon fliegt ihr eine Packung Kaba in den Rücken.
Kurz darauf, in der Lehrertoilette, verleugnet sie den Vorfall - nur ein Kaffeefleck,
weiter nichts. Nur keine Schwäche
zeigen den Kollegen gegenüber,
nur nicht zugeben, was im Unterricht passiert. Einer ihrer Kollegen, Thorsten
Rehm (Jan Neumann) versucht, sich anzunähern:
Er habe zu Beginn auch seine Schwierigkeiten gehabt, und für
Unsicherheit haben die Kinder ja riesige Antennen, sagt er. Melanie findet das
aufdringlich. Mit ihm essen geht sie dennoch, einmal. Er erzählt
von seinem 'eine-Welt'-Projekt - der alte Name von der 'dritten Welt' politisch
nicht mehr korrekt - und trinkt gleichzeitig im Afrika-Restaurant vermeintlich
originale Exotik-Brühe.
Mit Thorsten ist Regisseurin Maren Ade eine wunderbare Figur gelungen, karikiert
und trotzdem nie unsympathisch.
Überhaupt
ist die Zeichnung der Figuren die Stärke
der jungen Regisseurin –
auch ihre Titelheldin ist dreidimensional und überzeugend
gezeichnet. Man versteht sie, ihre Verzweiflung, ihre immer größer
werdende Unsicherheit, aber –
und das ist ein großer
Verdienst der Filmemacher –
man versteht auch die anderen:
Jene, denen sie auf die Nerven geht, die Schüler
die mit Kaba nach ihr werfen und ganz besonders Nachbarin Tina Schaffner (Daniela
Holtz), die sich immer mehr zurückzieht.
Anfangs dachte Melanie, Tina könnte
ihre Freundin werden, ihre Verbündete.
Aus ihrer Wohnung heraus hat sie sie beobachtet, immer obsessiver wurde sie,
immer eingenommener von jenem fremden Leben, das sich da vor ihrem Fernglas
ausbreitete, jenem fremden Leben, das alles hatte, das dem ihren fehlte: Freunde,
eine Affäre,
soziale Kontakte. Mit der Zeit hat sie genug Mut gesammelt, die Fremde anzusprechen,
und anfangs war Tina auch durchaus gewillt, sie einzulassen. Jetzt jedoch, jetzt
zieht sie sich zurück,
für
den einen oder anderen Gefallen kann sie Melanie noch gebrauchen, aber wenn
es darum geht, abends mit ihren Freundinnen auszugehen, wenn es darum geht,
eine Vernissage in ihrem Modeladen zu organisieren, dann ist sie nur im Weg,
jene unfassbar uncoole Lehrerin, die den gutangezogenen Bekannten aus der kleinstädtischen
Modebranche zeigt, mit welchen Grimassen sie ihre Fünftklässler
noch zum Lachen bringen kann statt sich in den Smalltalk einzugliedern.
Es
ist die Geschichte eines Scheiterns, die Der
Wald vor lauter Bäumen
erzählt.
Die Geschichte eines Neubeginns, der im Chaos endet. Am Anfang steht sie noch
im örtlichen
Blumenladen mit ihren Birkenstocksandalen an den Füßen
und diskutiert mit der Verkäuferin,
welche Farbe des Blumentopfes wohl am besten zu der Pflanze passt. Am Anfang
bastelt sie noch mühsam
pädagogisch
ausgefeilte Spiele, mit denen sie ihren Schützlingen
beikommen möchte.
Bald jedoch versinkt ihre Wohnung in eben dem Durcheinander, das ihre emotionale
Stabilität
aufgewirbelt hat, die Unruhe ihres Lebens, das erfolglose Suchen überträgt
die Heldin auf die Möbel,
die sie wild verräumt
und übereinanderstapelt,
auf die Tapete, die sie beschmiert, von der Wand reißt
und neu bemalt. Der
Wald vor lauter Bäumen
ist einer jener Filme, in denen man schon nach kurzer Zeit in jedem Augenblick
mit der Katastrophe rechnet, die all die aufgestauten Aggressionen, all die
Enttäuschungen
und all das Scheitern explodieren lässt,
und die Erwartung, dass irgendetwas
passieren möge
in dem furchtbar alltäglichen
Alltag der Heldin, stellt den Film in eine Reihe mit solch wunderbaren Arbeiten
wie Warum
läuft
Herr R. Amok?
oder Lovely
Rita.
Ade
hat ihren Film im Dialekt gedreht, und die unterschiedlichen Tonfarben der deutschen
Sprache, die den Dialog durchdringen, geben ihrer Arbeit eine ungeheure Intensität.
Man fühlt
mit, mit all den Protagonisten, man glaubt sich mit ihnen in genau der Fremde,
die die deutsche Provinz nun einmal ist. Eva Löbaus
Melanie ist einem ebenso peinlich wie Tina und dennoch sehnt man sich mit Melanie
nach menschlicher Nähe.
Der
Wald vor lauter Bäumen
ist ein gelungenes Porträt,
eine treffliche Charakterstudie und ein äußerst
viel versprechender Debutfilm.
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
Der
Wald vor lauter Bäumen
D
2003 R: Maren Ade D: Eva Löbau,
Daniela Holtz, Jan Neumann, Ilona Christina Schulz, Robert Schupp, Heinz Röser-Dümmig,
Martina Eckrich, Nina Fiedler, Hans-Rüdiger
Kuci
Bundesweiter
Kinostart: 27. Januar 2005
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