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Der
weiße Hai
“You’re
going to need a bigger boat“
"Sie werden wohl
ein größeres Boot brauchen." Das ist der berühmte Ratschlag,
den der Polizeichef dem Jäger direkt nach dem ersten kurzen Auftauchen
des Monsters im Film “Der weiße Hai” gibt. Es ist nicht nur eine herrlich
griffige Dialogzeile, sondern auch ein Beispiel für die Strategie, die
Spielberg den ganzen Film hindurch verfolgt: Man redet mehr über den Hai,
als dass man ihn zeigt; sichtbar wird er nicht in Fleisch und Blut, sondern
nur durch seine Aktionen. Angeblich nahm Spielberg die Regie für diesen
Film, als sie ihm von den Produzenten Richard Zanuck und David Brown angetragen
wird, nur unter einer Bedingung an: dass man den Hai in der ersten Stunde des
Films nicht zu Gesicht bekommen dürfe. Als ich die DVD-Ausgabe des Films
anlässlich des 25jährigen Jubiläums noch einmal sah, bemerkte
ich überrascht, wie selten man das Tier überhaupt sieht.
Indem er dem Publikum
den weißen Hai vorenthält, eifert Spielberg einer Taktik nach, die
Alfred Hitchcock seine gesamte Karriere hindurch anzuwenden verstand: „Eine
Bombe ist unter dem Tisch, und sie explodiert – das ist 'Überraschung'“,
sagte Hitchcock. „Eine Bombe ist unter dem Tisch, aber sie explodiert nicht
– das ist 'Spannung' [Suspense].“ In diesem Sinne behält Spielberg den
Hai für die längste Zeit des Films unter dem Tisch. Selbst in den
späteren Sequenzen sehen wir ihn nur aus zweiter Hand; nicht der Hai selbst,
sondern vor allem die Resultate seiner Handlungen werden gezeigt. Das Ergebnis
dieser inszenatorischen Strategie ist einer der effektivsten Thriller, die je
gedreht wurden.
Die Handlung des Film spielt sich am Wochenende des amerikanischen Unabhängigkeitstages
auf Amity Island ab, einem Touristenparadies, das von den mitgebrachten Dollars
seiner Besucher lebt. In der berühmten Eröffnungs-Sequenz wird die
Anwesenheit des Hais in den Küstengewässern etabliert: Ein Mädchen,
das im Mondlicht schwimmen geht, wird schreiend unter Wasser gezogen. Alles
deutet auf einen Hai hin, doch Bürgermeister Vaugh (Murray Hamilton) will
die Touristen nicht abschrecken und befiehlt Polizeichef Brody (Roy Scheider),
die Strände nicht zu sperren. „Wenn die Leute hier nicht schwimmen dürfen,
dann gehen sie an die Strände von Cape Cod, den Hamptons oder Long Island“,
erklärt der Bürgermeister, während Brody zurückgiftet: „Deswegen
müssen wir sie doch nicht auf dem Silbertablett servieren!“ Trotzdem paradiert
Vaughn am Strand herum, gekleidet in ein Sportjackett mit Krawatte, und ermutigt
die Besucher, ins Wasser zu gehen. Was sie dann auch machen, mit den vorhersehbaren
Folgen.
Eine Bürgerversammlung
wird durch die Ankunft der zweiten Hauptfigur unterbrochen: Der hartgesottene,
engstirnige Quint (Robert Shaw) holt sich die Aufmerksamkeit der Zuhörenden,
indem er mit seinen Fingernägeln über die Tafel kratzt, auf die ein
Bild des Hais gezeichnet wurde. Er bietet seine Dienste als Kopfgeldjäger
an: „Ihr kennt mich. Ihr wisst alle, womit ich mein Geld verdiene.“ Kurz darauf
sitzt Brody zu Hause und blättert in einem Buch über Haie – auf diese
Weise läßt Spielberg den Hai in unserer Vorstellung entstehen, während
wir Seite um Seite angsteinflößende Zähne sehen, kalte, kleine
Augen und Opfer, denen ganze Stücke aus dem Körper gerissen wurden.
(Eines der Bilder zeigt einen Hai mit der Pressluftflasche eines Tauchers im
Maul, vielleicht bekommt Brody daher die Idee, wie er den Hai letztendlich töten
könnte.)
Die dritte Hauptfigur
ist der Meeresbiologe Hooper (Richard Dreyfuss), der als Berater an Bord geholt
wird und einige für den Film sehr wichtige dramatische Information vermitteln
kann. („Womit wir es hier zu tun haben ist ein perfekter Motor. Eine Fressmaschine.“)
Brody ist davon überzeugt, dass die Strände geschlossen und der Hai
getötet werden muss, aber der Bürgermeister blockt ab. Nachdem der
Hai in den Fernsehnachrichten auftaucht und eine Belohnung von 3.000 Dollar
für seine Tötung ausgeschrieben wird, wimmelt es in Amity plötzlich
von Glücksrittern und Abenteurern.
Hier setzt Spielberg
eine seiner einfallsreichsten visuellen Techniken ein, um die Erscheinung des
Hais anzudeuten. Drei oder vier Männer versammeln sich auf einem Holzsteg
in der Hoffnung, den Hai zu fangen. Einer hat kurzerhand den Schweinebraten
seiner Frau geklaut, um ihn als Köder einsetzen. Sie stecken einen riesigen
Haken durch das Fleisch, vertäuen das Seil am Pier und werfen den Köder
aus. Der Hai reißt einfach das Ende des Piers aus seiner Verankerung und
trägt es mit sich hinaus auf See. Schöne Idee, aber noch beängstigender
ist die nächste Aufnahme, in der man den treibenden Pier sieht, wie er
wieder in Richtung Strand schwimmt.
Mit Hilfe solcher im
Wasser treibender Objekte wird durch den ganzen Film hindurch der unsichtbare
Hai angedeutet. Nachdem Brody, Quint und Hooper in Quints kaum seetüchtigen
Kahn hinausfahren, feuern sie eine Harpune auf den Hai ab. An der Harpune sind
gelbe Bojen angebracht, die den Hai durch ihren Auftrieb ermüden sollen.
In den letzten, entscheidenden Momenten des Films wird man oft nur diese Bojen
sehen und nicht den Hai – aber diese Prämisse wurde so gut etabliert, daß
der Hai tatsächlich anwesend scheint.
Das Drehbuch von Spielberg,
Benchley und Carl Gottlieb (unter Mitwirkung von Howard Sackler und einer entscheidenden
Rede von Shaw selbst) versteigt sich nicht zur Parabel: Die Figuren haben alle
einfache, geradlinige Motive. Wenig Dialog sagt viel aus. Einzelne Gesprächszeilen
zeigen exemplarisch die raubeinige Knappheit:
"Ich werde nicht
hier stehen und zusehen, wie man dieses Vieh aufschneidet und die Reste des
kleinen Kintner-Junge sich über das Dock ergießen."
"Ich habe einen
Haifischzahn von der Größe eines Schnapsglases aus der Hülle
des Schiffswracks gezogen, und es ist der Zahn eines Weißen Hais."
"Ein Hai hat leblose
Augen, schwarze Augen, wie die Augen einer Puppe. Wenn er hinter dir her ist,
scheint er leblos, bis er dich zu fassen kriegt und diese Augen ins Weiße
hinüberrollen."
Nach all den Szenen,
in denen der Hai eingeführt wird und der Vorhang für den Film geöffnet,
schlägt das eigentliche Herz des Films in den langen Szenen auf See, wo
Hooper und Brody (der Angst vor dem Wasser hat) mit Quint auf dessen Kahn unterwegs
sind. Brody hat recht: Sie bräuchten tatsächlich ein größeres
Boot. Quints Barkasse scheint dieser Aufgabe überhaupt nicht gewachsen,
es leckt, hat einen Motor, der Wolken von schwarzem Rauch hinter sich herzieht,
eine Brücke, die wie dafür geschaffen scheint, Seeleute über
Bord zu schleudern, und eine Harpunenrampe, die vom Bug hervorsteht und bemannt
aussieht wie ein Vorspeisenhäppchen auf einem Grillspieß.
Die beste Szene des
Film findet nachts in der Kombüse statt,
wo die Männer Aprikosenbrandy trinken und Quint und Hooper ihre Narben
vergleichen. Am Ende verfällt Quint in einen düsteren Monolog über
die Versenkung der USS Indianapolis während des Zweiten Weltkriegs. Er
war Teil der Besatzung, erzählt er, einer der 1100 Männer, die sich
von Bord retten konnten, von denen aber alle bis auf 316 von den Haien gefressen
wurden, bevor Hilfe eintraf: "Durchschnittlich sechs pro Stunde."
Als der Hai endlich
in der Nahaufnahme erscheint, ist er erwartungsgemäß Grauen erregend,
und kaum ein Zuschauer fragt sich, warum das Tier so große Anstrengungen
auf sich nimmt und einmal sogar versucht, das Boot zu verspeisen. Der Hai wurde
mit Hilfe von Dialogen und quasi-dokumentarischem Filmmaterial so gründlich
eingeführt, dass seine tatsächliche Präsenz in unserer Vorstellung
noch verstärkt wird durch alles, was wir bisher gesehen und gehört
haben.
Spielbergs erster großer
Hit enthält Elemente, die in vielen seiner Filme wieder auftauchen sollten.
Die nächtliche Jagd auf See gibt ein erstes Beispiel für sein visuelles
Markenzeichen: ein Lichtstrahl, der vom Nebel sichtbar gemacht wird. Auch in
seinen folgenden Filmen hat Spielberg sich mehr auf die Charaktere konzentriert,
anstatt sie nur abzuhaken auf dem Weg zu den Special Effects, wie es so viele
Action-Regisseure der 90er später getan haben. In diesem Film, und seither
immer, führt er die Zuschauer lieber zur Stimmung des Films hin, anstatt
emotional auf sie einzuknüppeln - eine der bemerkenswerten Eigenschaften
dieses Films ist sein gedämpfter Tonfall. Die berühmte Musik von John
Williams kreischt nicht heraus, sondern bleibt unscheinbar und voller Andeutungen.
Oft hört man diese Musik während point-of-view-Aufnahmen auf Höhe
der Wasserlinie oder darunter, so wird sie ein weiteres Hilfsmittel dafür,
den Hai anzudeuten, aber nicht zu zeigen. Die Kameraführung von Bill Butler
bemüht sich darum, eine Geschichte aus dem amerikanischen Mittelstand zu
erzählen. Spielbergs spätere Filme werden bevorzugt in den Vorstädten
spielen, und in "Der weiße Hai" zeigt er Vorstädter auf
Urlaub.
"Der weiße
Hai" kam 1975 in die Kinos und brach schnell den Rekord für die höchsten
Einnahmen, die ein Film bis dahin jemals eingespielt hatte. Durch ihn wurde
die Sommersaison auf ewig den Exploitation- und B-Filmen entrissen. Die großen
Hollywoodstudios, die bis dato einen Filmstart im Sommer traditionell vermeiden
wollten, sahen darin nun die bestmögliche Zeit, einen Film ins Kino zu
bringen, und gerade "Der weiße Hai" inspirierte Hunderte dieser
Sommerblockbuster. Für Spielberg läutete der Film eine der außergewöhnlichsten
Regisseurslaufbahnen der neueren Filmgeschichte ein. Vor diesem Film war er
leidlich bekannt als der talentierte Regisseur von Filmen wie "Duell" (1971) und "Sugarland
Express" (1974). Nach dem "Weißen Hai", der "Unheimlichen
Begegnung der Dritten Art" und dem "Jäger des verlorenen Schatzes",
war er der unbestrittene König.
Roger
Ebert
mit
freundlicher Genehmigung des Autors, aus dem Englischen übersetzt von Daniel
Bickermann
Der Original-Text ist erschienen am 20.8.2000 bei www.rogerebert.com
[http://rogerebert.suntimes.com/apps/pbcs.dll/article?AID=/20000820/REVIEWS08/8200301/1023]
Der
weiße Hai
JAWS
USA
- 1974 - 124 min. – Scope – BRD-Erstaufführung: 18.12.1975 - Produktionsfirma:
Universal - Produktion: Richard D. Zanuck, David Brown
Regie:
Steven Spielberg
Buch:
Peter Benchley, Howard Sackler (ungenannt)
Vorlage:
nach dem Roman "Jaws" von Peter Benchley
Kamera:
Bill Butler
Musik:
John Williams
Schnitt:
Verna Fields
Darsteller:
Roy
Scheider (Polizeichef Martin Brody)
Robert
Shaw (Quint)
Richard
Dreyfuss (Matt Hooper)
Carl
Gottlieb (Meadows)
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