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Wilde
Erdbeeren
Ein
Toter, der doch lebt
Ein
versteckter Ort. Nur zu finden für den, der auch sucht, zur richtigen Zeit.
Smultronstället, der Ort, an dem die wilden, süßen Erdbeeren
wachsen. Wer sie findet, kostet vom Leben, vom Baum der Erkenntnis. Ein seltener
Ort, ein privater Ort für den, der er ihn entdeckt. Ein Ort, den man vor
anderen lieber geheim hält.
Isak
Borg, der Mediziner, Biologe, ist alt geworden. 78 Jahre alt. Nun soll er für
seine Forschung ausgezeichnet werden, in Lund. Isak Borg hat einen Traum. Er
sieht sich selbst in einem ihm fremden Stadtteil von Stockholm. Er hat die Orientierung
verloren. Ein Sarg fällt von einer Kutsche, weil sie an einem Laternenpfahl
mit den Rädern hängen bleibt. Der Sargdeckel öffnet sich. Eine
Hand schaut heraus, bewegt sich, reicht sich Borg. Der Körper des Toten
erscheint. Es ist Borg selbst, der im Sarg liegt.
Der
Alptraum – fantastisch traumhaft von Bergman in dieser entfremdeten Mischung
aus Schwarz und Weiß und grellem Licht visualisiert – veranlasst Borg,
nach einem Streit mit seiner langjährigen Haushälterin Agda (Jullan
Kindahl), die die Ich-Bezogenheit des Professors seit Jahren an Leib und Seele
zu spüren bekommen hat, nicht mit dem Flugzeug nach Lund zu fliegen, sondern
das Auto zu benutzen. Mit seiner Schwiegertochter Marianne (Ingrid Thulin),
die ihren Mann verlassen hat, Borgs Sohn Evald (Gunnar Björnstrand), macht
er sich im sommerlichen Schweden auf den Weg über Östergötland
und den See Vättern in den Süden des Landes bis Lund, das kurz vor
Malmö liegt.
Borgs
Reise im Angesicht des nahen Todes wird zu einer Suche, einer nach seinem Leben
und nach dem, was ihm und anderen an ihm entgangen ist. Er sei ein egoistischer
Steinklotz, sagt Marianne zu ihm, und nicht nur sie ist der Meinung, dass Borg
sein Leben lang nur an sich gedacht hat. Ihr Mann, sein Sohn, sei aus dem selben
Holz geschnitzt wie der Vater, ein eiskalter Mensch, von dem sie sich trennen
musste, um den Qualen ihrer Ehe zu entgehen.
Bergman
schildert diese Reise – heute würde man vielleicht von einem Roadmovie
sprechen – als eine, in der die seelische Innenwelt Borgs sich mit den äußeren
Ereignissen auf der Reise zu einer fast homogenen und kaum voneinander unterscheidbaren
Fahrt in die eigene Vergangenheit verschmelzen. Borg zeigt Marianne das Ferienhaus,
in der er und seine Geschwister viele Sommer bei Tante Olga (Sif Ruud), Onkel
Aron (Yngve Nordwall) und deren Kindern verbracht haben. Borg phantasiert, träumt
die Szenen seiner Jugend. Sara (Bibi Andersson) sieht er, seine Jugendliebe,
mit Sigfrid (Per Sjöstrand), der ihr nachsteigt und sie später heiratet,
die doch ihn heiraten wollte. Eine andere Sara unterbricht seine Träume
(ebenfalls gespielt von Bibi Andersson), hübsch, blond, lebhaft, die ihn
bittet, auf ihrem Weg nach Italien sie und ihre beiden Begleiter, Anders (Folke
Sundquist), der Pfarrer werden will, und Viktor (Björn Bjelfvenstam), der
Arzt werden will, mitzunehmen.
Das
Junge, Frische, Streitbare, das Freundschaftliche, das Lebendige tritt noch
einmal in Borgs Leben, die Erinnerung an eine fast unbeschwerte Kindheit und
Jugend, von der er so weit entfernt scheint. Ein Verkehrsunfall unterbricht
die heitere Stimmung jäh. Ein streitendes Ehepaar, die Almans (Gunnel Broström,
Gunnar Sjöberg), kommt von der Straßen ab, der Wagen überschlägt
sich, fährt nicht mehr. Borg und Marianne nehmen beide mit. Aber als deutlich
wird, wie zänkisch und zynisch die Almans miteinander umgehen, setzt Marianne
beide wieder auf die Straße.
Als
ob durch die Erlebnisse auf der Fahrt nach Lund und seine erinnerten Träume
sein gesamtes Leben in Episoden noch einmal – in Gestalt anderer – vor ihm abläuft,
differenziert sich bei Borg das „Gute” vom „Schlechten”, das Harte vom Weichen,
das Schöne vom Hässlichen. Der Besuch bei seiner 96-jährigen
Mutter (Naima Wifstrand) wird für Marianne zu einer Art wachem Alptraum
– angesichts dieser kühlen, hartherzigen Frau, deren Kinder bis auf Isak
Borg alle tot sind, deren Enkelkinder sie fast nie besuchen kommen, einer Frau,
die ihre Wohnung zu einem Sammelsurium von Gegenständen gemacht hat, die
sie an das Vergangene erinnern sollen – in aller Härte, die sie anderen
vermittelt hat.
Während
Anders und Viktor um die Richtigkeit von Glauben oder Wissen streiten und prügeln,
träumt Borg seine Verurteilung wegen Kaltherzigkeit, Gefühlsarmut
und Selbstgefälligkeit. Auch die Strafe ist schon vorgesehen: Einsamkeit.
Marianne
resümiert: Borgs Mutter sei kalt, ihr Mann Evald sehne sich nach dem Tod
und nicht nach dem Kind, das sie unterm Herzen trage, und Borg habe richtig
gesagt, er sei ein lebender Toter.
Trotz
allem ist „Smultronstället” nicht etwa ein melodramatischer Film, keine
nur schwer verdauliche Reise durch das Innenleben eines alten Mannes oder gar
trockene psychologische Studie. Weit davon entfernt. Die Balance zwischen der
Schwere eines egozentrisch anmutenden Lebens und der Leichtigkeit, mit der Bergman
diese Geschichte erzählt, erfüllt den Betrachter mit einer Mischung
aus Sehnsucht und Lebensfreude, Schmerz und Verständnis. Borg wird eben
nicht als kaltes Ekel präsentiert, sondern als Mensch, der sich in seiner
Ich-Bezogenheit ein Stück Freiheit bewahrt hat. Dass er sich dabei über
andere hinweggesetzt hat und nicht in der Lage war, eine innige Beziehung zu
auch nur einem Menschen einzugehen, drückt die Tragik seines Lebens aus.
Die andere Seite jedoch ist genauso wichtig. Denn auch alle anderen haben Borg
nie verstanden.
Die
Augen sind in „Smultronstället” in gewisser Weise die Hauptakteure, die
Blicke der Personen zueinander, in die Vergangenheit, ins Innere, in die Abgründe
wie in die Freuden. Borg blickt auf Sara, auf seine Frau Karin und deren Liebhaber,
in die Gesichter der Familienmitglieder, in die Mariannes und seiner Mitfahrer.
Das Auge wird zum zentralen Ort der Erinnerung, des Gefühls und der Erkenntnis.
Das Visuelle ermöglicht eine Rekapitulation des Gewesenen. Doch es bewirkt
ebenso, dass beim Sehen und durch das Sehen die Schleier fallen, die es behinderten.
Auch Marianne erkennt z.B. auf dieser Reise, dass ihr Schwiegervater ein im
Grund seines Herzens liebevoller Mensch ist. Wenn man so will, ist „Wilde Erdbeeren”
auch eine Reise in diese seelischen Gefängnisse, in die Gefangenschaft,
in der Menschen stecken und in die sie sich begeben, auch in bezug auf die Beurteilung
anderer, die Gefühle, die man anderen gegenüber wegen deren Verhaltens
hegt.
Nicht
umsonst zählt „Wilde Erbeeren” zu Bergmans gelungensten Filmen.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Der
Film liegt jetzt auf einer von der Redaktion der Süddeutschen Zeitung herausgegebenen
DVD vor, in einer Reihe zusammen mit 49 weiteren Filmen unter dem Motto „50
Liebslingsfilme der SZ-Kinoredaktion”. Die DVDs dieser Reise enthalten kein
Bonus-Material, kosten aber im Einzelverkauf lediglich € 9,99. Nähere Informationen
unter: http://www.sz-mediathek.de
, dort unter Cinemathek.
Ulrich
Behrens
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei: www.follow-me-now.de
Zu diesem Film gibt es im archiv weitere Kritiken
Wilde
Erdbeeren
(Smultronstället)
Schweden
1957, 91 Minuten (DVD: 87 Minuten)
Regie:
Ingmar Bergman
Drehbuch:
Ingmar Bergman
Musik:
Erik Nordgren, Göte Lovén
Director
of Photography: Gunnar Fischer
Montage:
Oscar Rosander
Produktionsdesign:
Gittan Gustafsson
Darsteller:
Victor Sjöström (Prof. Isak Borg), Bibi Andersson (Sara), Ingrid Thulin
(Marianne Borg), Gunnar Björnstrand (Evald Borg), Jullan Kindahl (Agda),
Folke Sundquist (Anders), Björn Bjelfvenstam (Viktor), Naima Wifstrand
(Isaks Mutter), Gunnel Broström (Frau Alman), Gertrud Fridh (Isaks Frau),
Suf Ruud (Tante Olga), Gunnar Sjöberg (Sten Alman), Max von Sydow (Henrik
Åkerman), Per Sjöstrand (Sigfrid Borg), Yngve Nordwall (Onkel Aron)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0050986
©
Ulrich Behrens 2005
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