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Winterreise
Ja, wir sind in einer deutschen Feierstunde. Der
Film selbst ist Vätergedenktag. „Für unsere Väter“. Die Widmung
lesen wir schon im Vorspann. Respekt also bitte und Ruhe im Saal. Schuberts
Winterreise stimmt den Film hindurch auf Erhabenheit und Schwermut ein. Lange
Einstellungen verweilen auf klassischen Horizonten, Bilder der deutschen Winterlandschaft
und der roten Erde Afrikas, und Produzent Dieter Ulrich Aselmann erinnert daran,
dass wir Deutsche, das Volk der Dichter und Denker, über manches etwas
tiefer nachdenken und das sei gut so, und „wenn wir etwas von dieser WM-Lockerheit
dieses Sommers in den Alltag hinüberretten können, wäre es schön“.
Sollte man hinhören, was der Autor, gar der
Produzent zu seinem Werk sagt? Lieber nicht, sagt die Erfahrung. Doch wir sind
beim Thema. Aselmann ist der Vater dieses Films. „Winterreise“ ist sein Ding,
und wir wissen jetzt, wo es herkommt, das latente Unbehagen an der Traditionspflege.
– Dies im Sinn können wir uns dem Vater-Unikum Josef Bierbichler hingeben.
Er sprengt alle Fesseln, auch den ideologischen Hintersinn, und füllt den
Film aus. Mehr Bierbichler geht nicht. Eine Bierbichler-Implosion. Ein vorbildlicher
Vater der Adenauerzeit, der Deutschland wiederaufgebaut habe, als Hand anpackender
Chef eines mittelständischen Betriebes der Metallverarbeitung. Nein, das
spielt keine Rolle, weil Bierbichler keine Rolle spielt.
Mit dem Mittelstand geht es mittlerweile bergab und
damit auch mit der mittleren Gemütslage. Bierbichler rutscht von den Höhen
der Herrenjahre in die Tiefen deutschen Schwermuts. Er singt deshalb alle Strophen
des Schubertschen Leiermanns. Selbstredend verändert ihn das nicht. Das
hatte er immer drauf, von Jugend an mit klassischer Musik beschallt (tatsächlich
oder Film, egal). Unvermittelt dann die Schubertnoten weggeschmissen. „Arschloch!“,
und mit heavy metal zugedröhnt, laut. Von der Depression wieder zur Euphorie,
zur floriden Manie. Die Gattin nimmt es leidend hin. Hanna Schygulla spielt
eine Rolle, die der Wirtschaftswunderehefrau, die sich für den Mann aufopfert.
Ihr ist das Wunder geschuldet. Im Film ist sie nur für Bierbichler da.
Mehr ist über sie nicht zu sagen.
Einer zweiten wesenlosen Frau
ist zu danken, eine Generation jünger. Sibel Kekilli („Der letzte Zug“)
ebnet dem manisch-depressiven Chef den Weg. Ein Schutzengel, deutsch gesagt.
Ein
Couch im Film-Business. Therapeutin des Probanden. Studentin der Ethnologie,
Kurdin. Multipel codiert, behütet sie Bierbichler auf der Reise ins Land
der Sehnsucht, das Deutsche einst mit der Seele suchten, im Zeitalter der Billigflüge
aber antreten. Afrika ist es, Kenia, das ihn erlösen wird. Ein Schwarzer
auf dem Berg. „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehen?“ Bierbichler geht.
Und nun zu mir. Es tut mir leid, dass ich gegen meine
lautere Absicht ironische Untertöne nicht unterlassen konnte. Denn während
der Projektion und bevor ich hinterher gedanklich zu mir kam, war ich auf die
glückliche Art involviert, dem alles beherrschenden Bierbichler-Einfluß
erlegen. Deswegen ist es nur recht und billig, jetzt den genialen Rhythmus der
Montage zu würdigen. Die langen depressiven Totalen kippen in manisch-hektische
Nahaufnahmen. Im Fokuswechsel öffnet sich der Film. Regisseur Hans Steinbichler
(„Hierankl“) bringt uns auf die Straße, „die noch keiner ging zurück“.
Für Bierbichler hätte es selbstverständlich eine medikamentöse
Lösung (Tavor? Haloperidol?) geben können, aber Dichter und Denker
bevorzugen die neualte Erlösung. Das ist deutsch und poetisch.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text wurde geschrieben für
die: taz
Winterreise
Deutschland 2005 - Regie: Hans Steinbichler - Darsteller: Josef Bierbichler, Sibel Kekilli, Hanna Schygulla, Philip Hochmair, Anna Schudt, Johann von Bülow, André Hennicke, Brigitte Hobmeier, Klaus Manchen - FSK: ab 12 - Länge: 99 min. - Start: 23.11.2006
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